Es war ja noch so früh, und sie war von ihrer Lebensmittelfabrik, die gute zwanzig Minuten Metrofahrt entfernt lag, sicher noch nicht nach Hause gekommen. Ein Zug war gerade eingefahren, und eine Flut von Menschen strömte aus der Erde hervor, preßte sich durch die Sperre, wo die Tageslichtlizenzen kontrolliert wurden, und verlief sich dann in die nächstliegenden Straßen. Über die jetzt leeren Dachterrassen hinweg, über all die zusammengerollten steingrauen und wiesengrünen Persennige, welche in zehn Minuten die Stadt von der Luft aus unsichtbar machen konnten, betrachtete ich die ganze, wimmelnde Schar von heimkehrenden Mitsoldaten in Freizeituniform, und plötzlich traf mich der Gedanke, daß sie alle denselben Traum in sich trugen wie ich: den Traum vom Weg nach oben.

Der Gedanke ergriff mich. Ich wußte, daß früher während der zivilisierten Epoche die Menschen durch Hoffnung auf geräumigere Wohnungen, besseres Essen und schönere Kleider zu Arbeit und Anstrengung verlockt werden mußten. Jetzt war Derartiges nicht mehr nötig. Die Standardwohnung – ein Zimmer für Unverheiratete, zwei für Familien – reichte für den Geringsten wie für den Höchstgestellten gut aus. Die Mahlzeiten der Hausküche sättigten den General ebenso wie den Gemeinen. Die allgemeine Uniform – eine für die Arbeit, eine für Freizeit und eine für Militär- und Polizeidienst – war für alle, Mann und Frau, hoch und niedrig, bis auf die Gradbezeichnungen gleich. Nicht einmal diese unterschieden sich sehr voneinander. Das Erstrebenswerte eines höheren Grades lag einzig und allein im Symbol desselben. So hoch vergeistigt, dachte ich glücklich, ist tatsächlich jeder einzelne Mitsoldat im Weltstaat, daß das, worin er den höchsten Wert des Lebens wähnt, kaum eine greifbarere Form für ihn hat als drei schwarze Streifen auf dem Arm – drei schwarze Streifen, die ihm sowohl als Pfand für die Achtung vor sich selbst wie für die Achtung anderer gelten. Von materiellen Genüssen kann man sicher genug bekommen, sogar mehr als genug – gerade darum vermute ich, daß die Zwölfzimmerwohnungen der alten zivilisierten Kapitalisten auch kaum mehr waren als ein Symbol –, aber dieses Ungreifbarste von allem, dem man in Form von Gradbezeichnungen nachjagt, übersättigt keinen. Von Achtung und Selbstachtung kann niemand genug bekommen. Auf dieser Grundidee der Vergeistigung, der Abstraktion und der Unerreichbarkeit ruht unsere feste Gesellschaftsordnung – sicher und unanfechtbar für alle Zeiten.

So stand ich in Gedanken versunken beim Ausgang der Untergrundbahnstation, und wie im Traum sah ich den Wächter an den mit Stacheldraht gekrönten Mauern, die die einzelnen Distrikte trennen, auf und ab gehen. Vier Züge waren angekommen, viermal waren die Scharen ans Tageslicht hinaufgeströmt, bis Linda endlich durch die Sperre kam. Ich eilte auf sie zu, und wir gingen Seite an Seite weiter.

Sprechen konnten wir natürlich nicht, denn die Übungen der Luftflotte ließen weder tags noch nachts irgendwelches Gespräch im Freien zu. Auf alle Fälle las sie mir meine Freude vom Gesicht ab und nickte mir aufmunternd, wenn auch ernst wie immer, zu. Erst als wir im Wohnungsgebäude und im Aufzug waren, umgab uns eine relative Stille – das Dröhnen der Untergrundbahn, welches die Wände erzittern ließ, hätte uns ungehindert reden lassen können –, doch verschoben wir vorsichtigerweise jegliche Unterhaltung, bis wir unsere Wohnung erreicht hatten. Hätte uns jemand im Fahrstuhl beim Sprechen erwischt, wäre ja kein Verdacht natürlicher gewesen, als daß wir uns über etwas unterhielten, das die Kinder und das Dienstmädchen nicht hören sollten. Solche Fälle waren vorgekommen, als Staatsfeinde und andere Verbrecher Aufzüge als Treffpunkt für ihre Verschwörungen hatten benützen wollen; das lag ja auch auf der Hand, da aus technischen Gründen weder Polizeiohr noch Polizeiauge in einem Fahrstuhl angebracht werden konnten und der Aufzugführer anderes zu tun hatte, als auf die Gespräche der Fahrgäste zu achten. Vorsichtig schwiegen wir also, bis wir in den Familienraum eingetreten waren, wo das Mädchen, welches diese Woche die Hausarbeiten zu besorgen hatte, den Abendbrottisch schon gedeckt und mit den Kindern, die sie unten aus der Kinderabteilung geholt hatte, wartete. Sie schien ein ordentliches und nettes Mädchen zu sein, und unser freundlicher Gruß beruhte also nicht ausschließlich auf der Gewißheit, daß sie, wie alle Hausgehilfinnen, am Ende der Woche über die Familie Bericht zu erstatten hatte – eine Reform, welche im allgemeinen den Ton in Vielen Haushaltungen verbessert hatte. Eine freudige und harmonische Stimmung herrschte an unserm Tisch, besonders da unser ältester Sohn, Ossu, unter uns weilte. Es war Heimabend, und er war vom Kinderlager auf Besuch gekommen.

»Ich kann etwas Erfreuliches mitteilen«, sagte ich über die Kartoffelsuppe hinweg zu Linda. »Meine Experimente sind so weit fortgeschritten, daß ich morgen unter Aufsicht eines Kontrollchefs mit Menschenmaterial beginnen kann.«

»Was meinst du, wer wird es sein?« fragte Linda.

Äußerlich merkte man mir sicher nichts an, aber innerlich zuckte ich bei ihren Worten zusammen. Sie hatte es vielleicht nur so hingesagt. Was war natürlicher, als daß eine Frau fragte, wer der Kontrollchef ihres Mannes werden würde! Von der Launenhaftigkeit oder dem Entgegenkommen dieses Beamten hing es ab, wie lange sich die Experimente hinziehen würden. Es war sogar vorgekommen, daß ruhmsüchtige Kontrollchefs die Erfindungen anderer zu ihren eigenen gemacht hatten, und man hatte verhältnismäßig wenig Möglichkeit, sich einem derartigen Vorgehen zu widersetzen. Es war also nicht verwunderlich, daß der Mensch, der einem am nächsten stand, danach fragte.

Ich aber lauschte auf einen Unterton in ihrer Stimme. Mein unmittelbarer Chef und also wahrscheinlich mein künftiger Kontrollbeamter war Edo Rissen.