Ich bin ein entlaubter Stamm, alles hab' ich verloren was mein Leben erfreute: mein Weib ist tot seit vielen Jahren, meine Söhne sind tot, meine Enkel sind tot: bis auf einen, der ist schlimmer als tot: – der ist ein Welscher worden. Dahin und lang vermodert sind sie alle, mit denen ich ein kecker Knabe und ein markiger Mann gewesen, und schon steigt meine erste Liebe und mein letzter Stolz, mein großer König, müde in sein Grab. Nun seht, was hält mich noch im Leben? Was gibt mir Mut, Lust, Zwang zu leben? Was treibt mich Alten wie einen Jüngling in dieser Sturmnacht auf die Berge? Was lodert hier unter dem Eisbart heiß in lauter Liebe, in störrigem Stolz und in trotziger Trauer? Was anders als der Drang, der unaustilgbar in unsrem Blute liegt, der tiefe Drang und Zug zu meinem Volk, die Liebe, die lodernde, die allgewaltige, zu dem Geschlechte, das da Goten heißt, und das die süße, heimliche, herrliche Sprache redet meiner Eltern, der Zug zu denen, die da sprechen, fühlen, leben wie ich. Sie bleibt, sie allein, diese Volksliebe, ein Opferfeuer, in dem Herzen, darinnen alle andre Glut erloschen, sie ist das teure, das mit Schmerzen geliebte Heiligtum, das Höchste in jeder Mannesbrust, die stärkste Macht in seiner Seele, treu bis zum Tod und unbezwingbar.«

Der Alte hatte sich in Begeisterung geredet – sein Haar flog im Winde – er stand wie ein alter hünenhafter Priester unter den jungen Männern, welche die Fäuste an ihren Waffen ballten.

Endlich sprach Teja: »Du hast recht, diese Flamme lodert noch, wo alles sonst erloschen. Aber sie brennt in dir, – in uns, – vielleicht noch in hundert andern unsrer Brüder. Kann das ein ganzes Volk erretten? Nein! Und kann diese Glut die Masse ergreifen, die Tausende, die Hunderttausende?«

»Sie kann es, mein Sohn, sie kann es. Dank allen Göttern, daß sie's kann. Höre mich an. Es sind jetzt fünfundvierzig Jahre, da waren wir Goten, viele Hunderttausende, mit Weibern und Kindern, in den Schluchten der Hämusberge eingeschlossen.

Wir lagen in höchster Not. Des Königs Bruder war von den Griechen in treulosem Überfall geschlagen und getötet, und aller Mundvorrat, den er uns zuführen sollte, verloren: wir saßen in den Felsschluchten und litten so bittern Hunger, daß wir Gras und Leder kochten. Hinter uns die unersteiglichen Felsen, vor uns und zur Linken das Meer, rechts in einem Engpaß die Feinde in dreifacher Überzahl. Viele Tausende von uns waren dem Hunger, dem Winter erlegen: zwanzigmal hatten wir vergebens versucht, jenen Paß zu durchbrechen. Wir wollten verzweifeln. Da kam ein Gesandter des Kaisers und bot uns Leben, Freiheit, Wein, Brot, Fleisch – unter einer einzigen Bedingung: wir sollten getrennt voneinander, zu vier und vier, über das ganze Weltreich Roms zerstreut werden, keiner von uns mehr ein gotisch Weib freien, keiner sein Kind mehr unsre Sprache und Sitte lehren dürfen, Name und Wesen der Goten sollte verschwinden, Römer sollten wir werden. Da sprang der König auf, rief uns zusammen und trug's uns vor in flammender Rede und fragte zuletzt, ob wir lieber aufgeben wollten Sprache, Sitte, Leben unsres Volkes oder lieber mit ihm sterben? Da fuhr sein Wort in die Hunderte, die Tausende, die Hunderttausende wie der Waldbrand in die dürren Stämme, aufschrieen sie, die wackern Männer, wie ein tausendstimmiges, brüllendes Meer, die Schwerter schwangen sie, auf den Engpaß stürzten sie und weggefegt waren die Griechen als hätten sie nie gestanden, und wir waren Sieger und frei.«

Sein Auge glänzte in stolzer Erinnerung, nach einer Pause fuhr er fort: »Dies allein ist, was uns heute retten kann wie dazumal: fühlen erst die Goten, daß sie für jenes Höchste fechten, für den Schutz jenes geheimnisvollen Kleinods, das in Sprache und Sitte eines Volkes liegt wie ein Wunderborn, dann können sie lachen zu dem Haß der Griechen, zu der Tücke der Welschen. Und das vor allem wollt' ich euch fragen, fest und feierlich: fühlt ihr es wie ich so klar, so ganz, so mächtig, daß diese Liebe zu unsrem Volk unser Höchstes ist, unser schönster Schatz, unser stärkster Schild? könnt ihr sprechen wie ich: mein Volk ist mir das Höchste und alles, alles andre dagegen nichts, ihm will ich opfern was ich bin und habe, wollt ihr das, könnt ihr das!«

»Ja, das will ich, ja, das kann ich!« sprachen die vier Männer.

»Wohl«, fuhr der Alte fort, »das ist gut. Aber Teja hat recht: nicht alle Goten fühlen das jetzt, heute schon, wie wir und doch müssen es alle fühlen, wenn es helfen soll. Darum gelobet mir, von heut' an unablässig euch selbst und alle unsres Volkes, mit denen ihr lebt und handelt, zu erfüllen mit dem Hauch dieser Stunde. Vielen, vielen hat der fremde Glanz die Augen geblendet: viele haben griechische Kleider angetan und römische Gedanken: sie schämen sich, Barbaren zu heißen: sie wollen vergessen und vergessen machen, daß sie Goten sind – wehe über die Toren!

Sie haben das Herz aus ihrer Brust gerissen und wollen leben, sie sind wie Blätter, die sich stolz vom Stamme gelöst und der Wind wird kommen und wird sie verwehen in Schlamm und Pfützen, daß sie verfaulen: aber der Stamm wird stehen mitten im Sturm und wird lebendig erhalten, was treu an ihm haftet. Darum sollt ihr euer Volk wecken und mahnen überall und immer. Den Knaben erzählt die Sagen der Väter, von den Hunnenschlachten, von den Römersiegen: den Männern zeigt die drohende Gefahr und wie nur das Volkstum unser Schild: eure Schwestern ermahnt, daß sie keinen Römer umarmen und keinen Römling: eure Bräute, eure Weiber lehrt, daß sie alles, sich selbst und euch opfern dem Glück der guten Goten, auf daß, wenn die Feinde kommen, sie finden ein starkes Volk, stolz, einig, fest, daran sie zerschellen sollen wie die Wogen am Fels. Wollt ihr mir dazu helfen?«

»Ja,« sprachen sie, »das wollen wir.«

»Ich glaube euch,« fuhr der Alte fort, »glaube eurem bloßen Wort. Nicht um euch fester zu binden – denn was bände den Falschen? – sondern weil ich treu hange an altem Brauch und weil besser gedeiht, was geschieht nach Sitte der Väter – folget mir.«

 

Zweites Kapitel.

 

Mit diesen Worten nahm er die Fackel von der Säule und schritt quer durch den Innenraum, die Cella des Tempels, vorüber an dem zerfallenen Hauptaltar, vorbei an den Postamenten der lang herabgestürzten Götterbilder nach der Hinterseite des Gebäudes, dem Postikum. Schweigend folgten die Geladenen dem Alten, der sie über die Stufen hinunter ins Freie führte.

Nach einigen Schritten standen sie unter einer uralten Steineiche, deren mächtiges Geäst wie ein Dach Sturm und Regen abhielt. Unter diesem Baum bot sich ihnen ein seltsamer Anblick, der aber die gotischen Männer sofort an eine alte Sitte aus dem grauen Heidentum, aus der fernen nordischen Heimat gemahnte. Unter der Eiche war ein Streifen des dichten Rasens aufgeschlitzt, nur einen Fuß breit, aber mehrere Ellen lang, die beiden Enden des Streifens hafteten noch locker am Grunde: in der Mitte war der Rasengürtel auf drei ungleich in die Erde gerammte hohe Speere emporgespreizt, in der Mitte von dem längsten Speer gestützt, so daß die Vorrichtung ein Dreieck bildete, unter dessen Dach zwischen den Speersäulen mehrere Männer bequem stehen konnten. In der so gewonnenen Erdritze stand ein eherner Kessel, mit Wasser gefüllt, daneben lag ein spitzes und scharfes Schlachtmesser, uralt: das Heft vom Horn des Auerstiers, die Klinge vom Feuerstein. Der Greis trat nun heran, stieß die Fackel dicht neben dem Kessel in die Erde, stieg dann, mit dem rechten Fuß vorauf, in die Grube, wandte sich gegen Osten und neigte das Haupt: dann winkte er die Freunde zu sich, mit dem Finger am Mund ihnen Schweigen bedeutend. Lautlos traten die Männer in die Rinne und stellten sich, Witichis und Teja zu seiner Linken, die beiden Brüder zu seiner Rechten und alle fünf reichten sich die Hände zu einer feierlichen Kette. Dann ließ der Alte Witichis und Hildebad, die ihm zunächst standen, los und kniete nieder.