Kapitän Singleton
DANIEL DEFOE
Das Leben, die Abenteuer und die Piratenzüge des berühmten KAPITÄN SINGLETON
BUCH CLUB
65
Daniel Defoe
The Life, Adventures and Piracies of the Famous Captain Singleton
Aus dem Englischen übersetzt von Lore Krüger Mit einem Nachwort von Günther Klotz

Berechtigte Ausgabe für den buchclub 65, Berlin; 1980 © Aufbau-Verlag Be rlin und Weimar 1980 (deutsche Übersetzung) Einbandgestaltung Erich Rohde
Karl-Marx-Werk, Graphischer Großbetrieb, Pößneck V15/30 Printed in the German Democratic Republic Lizenznummer 301.120/179/80
Bestellnummer 612.496 5
Ein Bericht, wie Bob Singleton an der Küste von Madagaskar ausgesetzt wurde und sich dort ansiedelte, nebst einer Beschreibung der Insel und ihrer Bewohner; berichtet des weiteren von seiner Überfahrt in einem selbstgebauten Boot zum Festland von Afrika und gibt Kunde von den Sitten und Gebräuchen der Einheimischen; erzählt, wie er auf wunderbare Weise vor den Barbaren und wilden Tieren gerettet wurde und wie er bei den Eingeborenen einem Engländer begegnete, der aus London stammte; ferner, welch große Reichtümer er anhäufte und wie er nach England zurückkehrte. Schildert zum Schluß, wie Kapitän Singleton erneut zur See fuhr, mannigfache Abenteuer bestand und Piratenzüge mit dem berühmten Kapitän Avery unternahm.
Da es bei großen Persönlichkeiten, deren Leben bemerkenswert gewesen ist und deren Taten es verdienen, daß man sie für die Nachwelt festhält, üblich ist, viel über ihren Ursprung mitzute ilen und alle Einzelheiten über ihre Familie und die Geschichte ihrer Vorfahren zu berichten, will ich, um methodisch vorzugehen, das gleiche tun, obwohl ich meinen Stammbaum nur kurz zurückverfolgen kann, wie der Leser sehr bald sehen wird.
Wenn ich der Frau, die man mich lehrte, Mutter zu nennen, glauben darf, wurde ich als ein etwa zweijähriger, sehr gut gekleideter kleiner Knabe von einem Kindermädchen betreut, das mich an einem schönen Sommerabend aufs Feld hinaus gegen Islington brachte, um, wie sie vorgab, den Kleinen an die Luft zu führen; ein zwölf- oder vierzehnjähriges Mädchen aus der Nachbarschaft begleitete sie. Meine Betreuerin traf – ob nun auf Verabredung oder durch Zufall – einen jungen Burschen, ihren Schatz, wie ich vermute; er nahm sie mit in ein Gasthaus, um ihr ein Getränk und Kuchen vorzusetzen, und während sie sich dort unterhielten, spielte das Mädchen mit mir an der Hand im Garten und vor der Tür – zuweilen in Sicht, zuweilen außer Sicht, ohne sich etwas Böses dabei zu denken.
In diesem Augenblick kam eines jener Frauenzimmer vorbei, die zu jener Art von Leuten gehörte, die sich, wie es scheint, ein Geschäft daraus machten, kleine Kinder verschwinden zu lassen. Das war zur damaligen Zeit ein teuflisches Gewerbe, das sie vor allem dann betrieben, wenn sie sehr gut gekleidete kleine Kinder fanden, oder aber größere, die sie auf die Plantagen verkaufen konnten.
Die Frau, die tat, als spiele sie mit mir und umarme und küsse mich, lockte das Mädchen ziemlich weit von dem Wirtshaus fort, bis sie es schließlich unter einem glaubhaften Vorwand aufforderte, zurückzugehen und der Dienerin zu berichten, wo sie sich mit dem Kind befinde; eine Dame habe sich in den Jungen vernarrt und küsse ihn ab, sie solle sich aber weiter keine Sorgen machen, denn sie seien in der Nähe, und während das Mädchen sich dorthin auf den Weg machte, trug sie mich fort.
Anschließend wurde ich, wie es scheint, an eine Bettlerin, die ein hübsches kleines Kind haben wollte, um Mitleid zu erwecken, verkauft und danach an eine Zigeunerin, unter deren Herrschaft ich bis zum Alter von etwa sechs Jahren blieb. Und diese Frau ließ es mir an nichts fehlen, wenn sie mich auch ständig von einem Ende des Landes zum anderen schleifte, und ich nannte sie Mutter, obwohl sie mir schließlich sagte, daß sie nicht meine Mutter sei, sondern mich für zwölf Shilling einer anderen Frau abgekauft habe; die habe ihr erzählt, wie sie an mich gekommen sei, und ihr erklärt, ich hieße Bob Singleton – nicht Robert, sondern einfach nur Bob, denn anscheinend wußten sie nicht, auf welchen Namen ich getauft war.
Es ist müßig, hier darüber nachzudenken, welche furchtbare Angst das sorglose Kindermädchen, das mich verloren hatte, ausgestanden haben muß, wie meine zu Recht erzürnten Eltern sie wohl behandelt und welches Entsetzen diese empfunden haben mußten bei dem Gedanken, daß man ihr Kind auf eine solche Weise entführt hatte, denn ich erfuhr niemals etwas über die Angelegenheit, außer den Tatsachen, die ich schon berichtet habe, und auch nicht, wer mein Vater und meine Mutter waren, und so hieße es nur, nutzlos vom Thema abzuschweifen, wenn ich hier davon sprechen wollte.
Meine gute Zigeunermutter wurde, zweifellos wegen einiger ihrer würdigen Taten, schließlich gehängt, und da sich dies zu früh ergab, als daß ich bereits das Gewerbe des Herumstro lchens beherrscht hätte, nahm sich die Pfarrgemeinde, in der ich zurückgeblieben war und an die ich mich beim besten Willen nicht erinnern kann, meiner einigermaßen an, denn das erste, worauf ich mich danach zu besinnen vermag, ist, daß ich eine Pfarrschule besuchte und der Pfarrer der Gemeinde mich zu ermahnen pflegte, ich solle ein braves Kind sein und ich könne, obgleich ich nur ein armer Junge sei, doch zu einem guten Menschen aufwachsen, wenn ich mich an die Bibel hielte und Gott diente.
Ich glaube, ich wurde häufig von einer Ortschaft in die andere geschafft, vielleicht, weil sich die Gemeinden über den letzten Wohnsitz der Frau stritten, die sie für meine Mutter hielten. Ob sie mich nun wegen dieser oder anderer Gründe hin und her schickten, weiß ich nicht, aber die Stadt, in der man mich schließlich behielt, wie sie auch heißen mochte, konnte nicht weit vom Meer entfernt liegen, denn ein Schiffskapitän, der Gefallen an mir fand, nahm mich mit an einen nicht weit von Southampton gelegenen Ort, der, wie ich später erfuhr, Bussleton war, und dort ging ich den Zimmerleuten und Handwerkern, die beauftragt waren, ein Schiff für ihn zu bauen, zur Hand. Als es fertig war, nahm er mich, obgleich ich erst zwölf Jahre alt war, mit auf See, zu einer Fahrt nach Neufundland.
Ich lebte recht gut und gefiel meinem Herrn so, daß er mich seinen Jungen nannte, und ich hätte ihn Vater gerufen, aber das wollte er mir nicht erlauben, denn er hätte eigene Kinder. Ich begleitete ihn auf drei oder vier Fahrten und wuchs zu einem großen, kräftigen Burschen heran; da kaperte uns auf der Heimfahrt von der Neufundlandbank ein algerischer Seeräuber oder ein Kriegsschiff. Das war, wenn meine Berechnung stimmt, um das Jahr 1695, denn selbstverständlich führte ich kein Tagebuch.
Ich war von dem Unglück nicht sehr betroffen, obwohl ich sah, wie die Türken meinen Herrn, nachdem ihn während des Gefechts ein Splitter am Kopf verwundet hatte, sehr grausam behandelten; ich war also nicht sehr davon betroffen, bis sie mich auf irgendeine unglückselige Äußerung hin, die ich, wie ich mich erinnere, darüber machte, daß sie meinen Herrn mißhandelten, packten und mir mit einem flachen Stock erbarmungslos auf die Fußsohlen schlugen, so daß ich mehrere Tage lang weder gehen noch stehen konnte.
Mein Glück stand mir jedoch diesmal bei; denn als sie mit unserem Schiff als Beute am Schlepptau auf die Meerenge zu davonsegelten und in Sichtweite des Golfes von Cadiz gelangten, griff ein großes portugiesisches Kriegsschiff den türkischen Seeräuber an, kaperte ihn und brachte ihn nach Lissabon.
Da ich mir über meine Gefangenschaft nicht viel Sorgen gemacht hatte, denn ich begriff die Folgen nicht, die sich bei längerer Dauer daraus ergeben hätten, freute ich mich auch nicht gebührend über meine Befreiung. Freilich war es für mich auch nicht so sehr eine Befreiung, wie sie es unter anderen Umständen gewesen wäre, denn mein Herr, der einzige Freund, den ich auf der Welt hatte, starb in Lissabon an seiner Verwundung, und so war ich fast wieder in meinen Ausgangszustand, nämlich den des Hungerleiders, zurückversetzt, und dazu noch in einem fremden Land, wo ich niema nden kannte und kein Wort der Sprache beherrschte. Es ging mir dort jedoch wider Erwarten besser, denn als nun alle unsere Leute frei waren und gehen konnten, wohin es ihnen beliebte, blieb ich, der ich nicht wußte, wohin ich mich wenden sollte, noch mehrere Tage lang auf dem Schiff, bis mich schließlich einer der Offiziere erblickte und sich erkundigte, was denn dieser junge englische Hund dort tue und warum man ihn nicht an Land gesetzt habe.
Ich hörte ihn und verstand so ziemlich, was er meinte, wenn auch nicht, was er sagte, und begann mich sehr zu fürchten, denn ich wußte nicht, woher ich ein Stück Brot nehmen sollte; da kam der Steuermann des Schiffs, ein alter Seebär, der sah, wie trübselig ich war, auf mich zu, sprach mich in gebrochenem Englisch an und erklärte mir, ich müsse von dort fortgehen. „Wohin muß ich denn gehen?“ fragte ich. „Wohin du willst“, sagte er, „nach Hause in dein Land, wenn du willst.“ – „Wie soll ich denn dorthin kommen?“ erwiderte ich. „Wieso, hast du keine Freunde?“ sagte er. „Nein“, antwortete ich, „auf der ganzen Welt nur diesen Hund dort“, und ich zeigte auf den Schiffshund (der kurz zuvor ein Stück Fleisch gestohlen und in meine Nähe geschleppt hatte; ich hatte es genommen und gegessen), „denn er hat sich als guter Freund gezeigt und mir mein Essen gebracht.“
„So, so“, sagte er, „dein Essen mußt du freilich haben. Willst du mit mir gehen?“
„Ja“, erwiderte ich, „von Herzen gern.“
Kurz, der alte Steuermann nahm mich mit sich nach Hause und behandelte mich ziemlich gut, wenn mein Schicksal auch recht hart war, und ich lebte ungefähr zwei Jahre bei ihm. Während der Zeit bewarb er sich um einen Posten in seinem Beruf und wurde schließlich Erster Steuermann unter Don Garcia de Pimentesia de Carravallas, dem Kapitän einer portugiesischen Galione oder Karake, die nach Goa in Ostind ien fuhr, und sobald er sein Patent erhalten hatte, brachte er mich an Bord, damit ich seine Kabine in Ordnung hielt, in der er sich mit reichlich alkoholischen Getränken, Süßigkeiten, Zucker, Gewürzen und anderen Dingen als Annehmlichkeiten für seine Reise eingerichtet hatte, und später brachte er darin eine beträchtliche Menge europäischer Waren unter, feine Spitzen und Leinen sowie auch Flanell, Wollstoffe, Tuche und dergleichen, unter dem Vorwand, es sei zu seiner Bekleidung.
Ich war zu neu im Fach, um ein Logbuch von dieser Reise zu führen, obwohl mein Herr, der für einen Portugiesen ein beträchtlicher Könner war, mich dazu anregte; aber die Tatsache, daß ich die Sprache nicht verstand, war ein Hindernis, zumindest diente sie mir als Entschuldigung. Nach einiger Zeit begann ich mir jedoch seine Tabellen und Bücher anzusehen, und da ich eine ganz ordentliche Handschrift hatte, etwas Latein verstand und anfing, mir einige Grundkenntnisse der portugiesischen Sprache anzueignen, begann ich auch, ein oberflächliches Wissen der Navigation zu erlangen, das jedoch nicht genügte, um mich durch ein Abenteurerleben zu steuern, wie das meine es werden sollte. Kurz, ich lernte bei dieser Reise unter den Portugiesen einige wesentliche Dinge; vor allem lernte ich, ein durchtriebener Dieb und ein schlechter Seemann zu sein, und ich glaube, ich kann sagen, daß sie unter allen Völkern der Welt für beides die geeignetsten Lehrer sind.
Wir fuhren nach Ostindien, entlang der Küste von Brasilien – nicht als hätte sie auf unserer Segelroute gelegen, aber unser Kapitän fuhr – entweder auf eigenen Wunsch oder auf Anordnung der Kaufherren – zuerst dorthin, und wir löschten in der Allerheiligenbai oder am Rio de Todos los Santos, wie sie sie in Portugal nennen, fast hundert Tonnen Waren und luden eine beachtliche Menge Gold sowie einige Kisten Zucker und siebzig oder achtzig große Ballen Tabak, von denen jeder mindestens einen Zentner wog.
Hier wohnte ich auf Befehl meines Herrn an Land und versah die Geschäfte des Kapitäns, denn er hatte gesehen, daß ich für meinen Herrn sehr eifrig tätig war, und als Entgelt für sein unangebrachtes Vertrauen fand ich Gelegenheit, von dem Gold, das die Händ ler an Bord sandten, etwa zwanzig Moidors beiseite zu bringen, das heißt zu stehlen, und dies war mein erstes Abenteuer.
Von dort zum Kap der Guten Hoffnung hatten wir eine ganz erträgliche Fahrt, und ich stand im Ruf, meinem Herrn ein sehr emsiger und sehr treuergebener Diener zu sein. Emsig war ich wirklich, aber keineswegs ehrlich, dafür hielten sie mich aber, und das war, nebenbei gesagt, ihr großer Irrtum. Auf Grund ebendieses Irrtums fand ich die besondere Zuneigung des Kapitäns, und er beauftragte mich häufig mit seinen eigenen Geschäften; zur Belohnung meines rührigen Fleißes erwies er mir mehrmals Gunstbezeigungen. So wurde ich ausdrücklich auf Befehl des Kapitäns zu einer Art Steward ernannt, der dem Schiffssteward unterstand, und war zuständig für die Verpflegung, die der Kapitän für seinen eigenen Tisch forderte. Er hatte außerdem noch einen zweiten Steward für seine privaten Vorräte; mein Amt betraf jedoch nur das, was der Kapitän von den Schiffsvorräten für seine private Benutzung entnahm.
Auf diese Weise hatte ich aber Gelegenheit, den Diener meines Herrn besonders gut zu betreuen und mich mit genügend Proviant zu versorgen, um besser zu leben als die übrigen Leute auf dem Schiff, denn der Kapitän bestellte, wie oben erwähnt, nur selten etwas aus den Schiffsvorräten, ich zweigte davon jedoch einiges für meinen eigenen Gebrauch ab. Wir gelangten etwa sieben Monate nach unserer Abfahrt von Lissabon nach Goa in Ostindien und lagen dort acht weitere Monate. Während dieser Zeit hatte ich, da mein Herr meistens an Land war, tatsächlich nichts weiter zu tun, als nur alles zu lernen, was es Schlechtes bei den Portugiesen gibt, einem Volk, welches das hinterlistigste und verderbteste, das anmaßendste und grausamste von allen Völkern der Welt ist, die vorgeben, Christen zu sein.
Stehlen, Lügen, Fluchen und Meineide schwören, zusammen mit der abscheulichsten Unzüchtigkeit, gehörten zu den regelmäßigen Gewohnheiten der Schiffsmannschaft; dazu kam, daß die Leute die unerträglichsten Prahlereien über ihren eigenen Mut von sich gaben und dabei im allgemeinen die größten Feiglinge waren, denen ich je begegnet bin. Die Folgen ihrer Feigheit wurden bei vielen Anlässen sichtbar. Einer oder der andere aus der Mannschaft war jedoch nicht ganz so schlimm wie die übrigen, und da mich mein Geschick unter jene gestellt hatte, empfand ich in Gedanken die größte Verachtung für die übrigen, die sie auch verdienten.
Ich paßte wahrhaftig genau in ihre Gesellschaft, denn ich besaß keinerlei Sinn für Tugend oder Religion. Ich hatte von beiden nicht viel gehört, außer dem, was ein guter alter Pastor mir gesagt hatte, als ich ein acht- oder neunjähriges Kind war – ja, ich war auf dem besten Wege, rasch zu einem Menschen aufzuwachsen, der so verrucht war, wie er nur sein konnte oder wie es vielleicht nur je einen gegeben hat. Das Schicksal lenkte zweifellos auf diese Weise meine ersten Schritte in dem Wissen, daß ich Arbeit auf der Welt zu verrichten hatte, die nur jemand ausführen konnte, der gegen jeden Sinn für Ehrlichkeit oder Religion verhärtet war. Trotzdem aber empfand ich sogar in diesem ursprünglichen Zustand der Sündhaftigkeit einen so entschiedenen Abscheu vor der verworfenen Niedertracht der Portugiesen, daß ich sie von Anfang an und auch danach mein ganzes Leben lang nur von Herzen zu hassen vermochte.
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