Das Gesetz des Handelns muss bei ihm bleiben. So ist es im Falle des Grafen von Wädenswil, einem Theaterschneider, der mit seiner pseudogräflichen Begleiterin, einer Schauspielerin, beim Abzug vor der drohenden Entlarvung die von ihm geprellte Gesellschaft auch noch verspottet. Auf einem Abschiedsbillett höhnt er:

„O Wädenswyl, o Wädenswyl,

Dem Grafen trautest du vielzuviel!“

Das aus der Mitte der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts überlieferte Ereignis, das Gottfried Keller durch Die Komödie von Wädensweil des junghegelianischen Philosophen und Schriftstellers Arnold Ruge (1802  1880) vermittelt worden sein könnte, scheint das Sprichwort illustrieren zu wollen: Wer den Schaden hat, muss für den Spott nicht sorgen.

Gottfried Kellers Novelle Kleider machen Leute traktiert ebenfalls eine Sprichwortweisheit. In der eine antike moralische Verhaltensregel endgültig sprichwörtlich machenden Geschichte, ist das Spotten aber eher auf Seiten der Geschädigten, scheint die Weisheit der ersteren Redensart zunächst auf den Kopf gestellt. Es spottet nicht der betrügerische Renommist, der Prahlhans, sondern die scheinbar ehrenwerte, aber betrogene Gesellschaft. Der den Grafen spielende Schneidergeselle Wenzel Strapinski zieht zumindest von dritter Seite, aus Seldwyla, alle Spottgewitter auf sein Haupt; deren Hohn und die „gerechte“ Empörung der Goldacher würde ihm mit ziemlicher Sicherheit sogar das Leben kosten, wenn da nicht Rettung in letzter Not käme.

Obwohl Gottfried Kellers Schneider, der auf der Suche nach einem würdigen Dasein, so ganz anders beschaffen ist als der die Wädenswiler foppende Graf – der Theaterschneider wird mit seiner Begleiterin um der lieben Moral willen „schlussendlich“ doch noch an der Kantonsgrenze ergriffen –, so ist er doch eines seiner möglichen Vorbilder. Allerdings entpuppt sich im Falle von Wenzel Strapinski die Frage, ob er ein Hochstapler ist, sehr schnell als eine rein rhetorische Angelegenheit. Nach seiner Entlarvung denkt er nicht einen Augenblick daran, sich einen Abgang zu verschaffen, der ihm das letzte, wenigstens schadenfreudige Wort ließe. Er stand vielmehr nur „langsam auf und ging mit schweren Schritten hinweg, die Augen auf den Boden gerichtet, während große Thränen aus denselben fielen.“ |56| Mit diesem stumm-beredten Abgang wird eine zweite Frage wichtig. Wer wird hier wo und durch wen entlarvt? Darauf sind vielfache, eher komplexe Antworten möglich.

Der bestimmte Hinweis auf eine von vielen möglichen Quellen der Novelle Kleider machen Leute zeigt, dass Stoffe ihrer Tendenz nach geradezu in ihr Gegenteil verkehrt werden können. Der Hinweis mag aber auch verdeutlichen, dass die traditionelle Lesart von Kellers titelgebendem Sprichwort seinerseits entschieden in Frage gestellt wird. Das Sprichwort erweist sich jedenfalls als doppelbödige, gar hinterhältige Weisheit. Es lässt sich nicht nur im Sinne der antiken Verhaltensregel verstehen, sondern auch als Kritik, die einen offenkundigen gesellschaftlichen Missstand offenbart. Sie ist gar nicht so sehr auf Wenzel Strapinski gemünzt, sondern auf die Gesellschaft, die ihn nach Maßgabe der tief verinnerlichten und konventionellen Lesart des Sprichworts verkennt. Zusätzlich beschreibt die zwischen Verhaltensregel und Warnung vor falschem Schein oszillierende Allerweltsweisheit auch Kellers Poetik. Nicht das Grundmaterial, sondern vor allem das „ Wie“ des Erzählens macht den Dichter. Der Stoff muss sich das Zuschneiden, manchmal sogar Verschneiden, auch das Umwenden und Verwenden seiner linken Seite gefallen lassen. Und wenn der Zuschneider sich als Künstler und nicht als Konfektionär versteht, dann macht er sich frei von Schnittmusterbögen und sonstigen Standards des Handwerks.

„Ich habe einige meiner Sachen vorn angefangen und in einem Zuge zu Ende gebracht“, bringt Keller stolz in Erinnerung, aber „andere begann ich irgendwo und sah dann zu, wie ich weiter kam. Im allgemeinen wusste ich nie etwas mit Sicherheit vorher als den Schluss und danach habe ich mich natürlich eingerichtet. Das Beste fällt mir immer erst über dem Schreiben ein.“ (Adolf Frey: Erinnerungen an Gottfried Keller. 2. erweiterte Auflage. Leipzig 1893, S. 40) Kellers Bekenntnis zum Prinzip des Erzählens, des produktiven Verfertigens, des Machens, ignoriert souverän das in gewisser Weise stets auf Entlarvung zielende philologische Bemühen, wenn es einseitig auf den Nachweis von Anregungen, Vorlagen und Quellen aus ist.

Stoffe waren Keller wohlfeil; er hatte für die Novelle Kleider machen Leute viele zur Verfügung; die Ausführung beanspruchte hier wie anderweitig bekanntermaßen viel Zeit. Das Zustandekommen des zweiten Bandes der Seldwyler Geschichten, das sich achtzehn Jahre hinzog, ist dafür Beweis genug. Wo der erzählerische Einstieg in die Novelle Kleider machen Leute erfolgte, ist gleichwohl schwer zu sagen; etwas weniger schwer lassen sich zeitliche Rahmendaten angeben. Die Anfänge zur Ausarbeitung der Geschichte des arbeitslosen Schneidergesellen fallen in die Mitte der sechziger Jahre. Spuren eines ursprünglichen Plans führen zeitlich sogar viel weiter zurück. Der Abschluss der Erzählung dürfte ungefähr auf 1870 zu datieren sein. Die kleine, fest konturierte Novelle, die parallel zur und unterbrochen von der Arbeit an anderen Geschichten über diese Jahre hin entstanden ist, gehört nicht nur zu den Arbeiten, die Kellers späten Ruhm begründen sollten, sondern sie gilt auch als repräsentativ für die Art und Weise des Erzählens in der Manier des „poetischen Realismus“. Ihre Gesamtperspektive wird als heiter und gelassen, ironisch distanziert und dennoch humoristisch mitfühlend, von satter Gegenständlichkeit und Welthaltigkeit beschrieben. Alles romantisch Wunderbare ist ihr ferne, und in realistisch–psychologischer Nüchternheit und Knappheit werden zweierlei Perspektiven einer in eine leicht tragisch grundierte Ereignisfolge verwickelten Figur von mittlerem Charakterformat skizziert und vermittelt.