Selbst ihren entlarvenden Mummenschanz verstehen sie so plastisch und drastisch, wie ihn Keller in
einem späteren Brief vom 25. Juni 1878 gegenüber Einwänden Theodor Storms (1807 – 1888) verteidigte. Kellers Erläuterung, das Groteske, Ungeheuerliche und Tolle sei zwar Erfindung, aber gleichwohl konkrete
oberdeutsche Fastnachtserfahrung, ist eine Seite der Sache. Jenseits der poetologischen Warte auf der Ebene der Figuren ist die Mummerei natürlich selber hochtheatralischer
Schein. Er ist allzu fein sinnbildhaft, zu devisenträchtig, zu emblematisch und allegorisch gesponnen, als dass er nicht gerade
deshalb als ein die bürgerlich-gesellschaftliche Verfassung nach der Revolution von 1848 auf den Prüfstand rufendes Verfahren
erkennbar werden sollte. In poetischen Realismus verkleidet, wird in Barockmanier ein Allegorienspiel über Schein und Sein
entfaltet, das Goldachs wie Seldwylas Wirklichkeit unter dem alten Topos von der „ Verkehrten Welt“ offenbart. Kellers Lust
an prächtiger realistischer Gegenständlichkeit entpuppt sich als tief sitzende Faszination vor allegorisch-barocker Bildmagie,
deren Zauber er beim Erzählen immer wieder erliegt. Sie ist – die vielfachen Behauptungen vom Märchencharakter der Novelle
sind entschieden falsch – vergleichbar jener Huldigung vor dem barocken Geist, den das Wiener Zauberspiel Nestroys oder Raimunds
beschwört. Fortuna regiert hier wie dort und trägt die Protagonisten hoch empor und lässt sie nach Laune tief fallen, indem
sie mit Gewinnspiel und Lotterielosen die Handlung steuert. Darüber hinaus bemüht Kellers Entlarvungsmaskerade, sein Verlachstück
ohne Besserungsabsicht, die Sinnbildwelten der Tierfabel, und für die Darstellung der Behäbigkeit der kleinstädtischen Scheinwelt
greift er auf die in den überlieferten Geschlechterwappen und tradierten Hausnamen gepflegte Heraldik und Emblematik zurück.
Ihre Aufzählung (Linde, Drache, Paradiesvogel, Einhorn, Granatbaum etc.) konkurriert mit den Sinnbildern, die den stattlichen
Schlittenzug namentlich machen (Tapferkeit, Verbesserlichkeit, Jakobsbrunnen, Teich Bethesda etc.). Schon der erste Schritt in die Traumwelt Goldachs führt unter dem Zeichen der Waage,
so der Name des Gasthof, in dem Wenzel abgesetzt wird, in ein Ambiente, das mehr einem üppigen Stilleben des Barock ähnelt
als einem Musterbild der Entstehungszeit der Novelle. Rebhuhnpastete und Schnepfen, Fisch und Hammel, Bordeaux und Tokaier,
Konfekt und Obst, Tafelaufsatz und damastenes Tischzeug regieren das Bild. Das erzählerische Gesamtergebnis wird damit aber
seinerseits unverhohlen zum poetischen Sinnbild einer verkehrten Welt, in der gegen die ehrliche Devise „Leute machen Kleider“
die problematische, Schein als Sein ausgebende Sprichwortweisheit „Kleider machen Leute“ oberstes Gebot ist. Sie wird abgeklopft,
auf ihre Tauglichkeit untersucht und verworfen, wenn sie der Beschönigung dient.
Den Triumph einer objektiv bewährten Wirklichkeit, Bürgerlichkeit und gesellschaftlich akzeptierten Verfassung, in der die
den Sachen und den Umständen gebührende Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit als Prinzip regiert, ermöglicht nach einer
harten Bewährungsprobe jedoch nicht der Held der Geschichte, der bezeichnenderweise gar nicht titelbestimmend wurde. Es ist
vielmehr Nettchen, seine Geliebte, der es obliegt, die Welt vom Kopf auf die Füße zu stellen. Sie wird mit dem Ende des Mummenschanzes,
der für beide ein böses Erwachen ist, die heimliche Heldin des Geschehens; sie wird Subjekt, nimmt wörtlich die Zügel in die
Hand. Ihr gelingt es, den verhexten Traum in reale Präsenz zu übersetzen, Zukunft zu ermöglichen. Keller realisiert in ihr
sein Ideal einer praktischen Humanität, das noch lange keine gesellschaftliche Realität sein wird. Es ist beachtenswert, und in der Wirkungsgeschichte blieb es eher missachtet,
dass die Zukunft wesentlich in weiblichen Händen liegt und unter dem Zeichen des Regenbogens steht. So jedenfalls lautet der
Name des Seldwyler Gasthauses, in dem Nettchen und Wenzel ihre zweite, „rechte Verlobung aus tief entschlossener Seele“ |75|
öffentlich demonstrieren. Wie schon in der Bibel wird in seinem Zeichen hier gleich ein doppelter neuer Bund besiegelt: ein
privater Ehebund und ein gesellschaftlicher Pakt; beide bestätigen, dass verhüllt nur das erkennbar sein wird, was nackt erkannt
worden ist.
Informationen zum Buch
Kellers Novelle ›Kleider machen Leute‹ erschien erstmals 1874 unter dem Titel ›Die Leute von Seldwyla‹ in Stuttgart. Sie erzählt
die Geschichte des arbeitslosen Schneidergesellen Wenzel Strapinski, der aufgrund eines Missverständnisses für einen Grafen
gehalten wird.
Der sprichwörtlich gewordene Titel ›Kleider machen Leute‹ nimmt die Oberflächlichkeit der Gesellschaft kritisch unter die
Lupe. Es sind nicht die inneren Werte, welche als Bewertungsgrundlage dienen, sondern die äußeren Zeichen des Wohlstandes.
Doch die Gestaltung eines harmonischen Endes stimmt dennoch versöhnlich. Keller lässt hier anklingen, dass das Sein letztlich
doch mehr zählt als der von allen bewunderte Schein.
Informationen zum Autor
Gottfried Keller wurde am 19. Juli 1819 als Sohn eines Drechslers in Zürich geboren und wuchs in kleinbürgerlichen Verhältnissen auf. Nach
einem Verweis von der kantonalen Industrieschule 1834 arbeitete er einige Zeit als Maler. Keller hatte bereits nach wenigen
Jahren ernste Zweifel an seiner Berufswahl und entdeckte seine schriftstellerische Begabung. Dank eines Stipendiums konnte
er im Herbst 1848 sein Studium der Geschichte, Philosophie und Literatur in Heidelberg aufnehmen. In den folgenden Jahren
arbeitete er als freier Schriftsteller und Staatsschreiber. Keller starb am 15. Juli 1890 in Zürich.
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