Sobald Strapinski nur an seine Mütze griff und
dieselbe demüthig vor seine Brust nahm in seiner Ueberraschung, verbeugte sich das Mädchen rasch erröthend gegen ihn, aber
überaus freundlich, und fuhr in großer Bewegung, das Pferd zum Galopp antreibend, davon.
Strapinski aber machte unwillkürlich ganze Wendung und kehrte getrost nach der Stadt zurück. Noch an demselben Tage galoppirte
er auf dem besten Pferde der Stadt, an der Spitze einer ganzen Reitergesellschaft, durch die Allee, welche um die grüne Ringmauer
führte, und die fallenden Blätter der Linden tanzten wie ein goldener Regen um sein verklärtes Haupt.
Nun war der Geist in ihn gefahren. Mit jedem Tage wandelte er sich, gleich einem Regenbogen, der zusehends bunter wird an
der vorbrechenden Sonne. Er lernte in Stunden, in Augenblicken, was Andere nicht in Jahren, da es in ihm gesteckt hatte, wie
das Farbenwesen im Regentropfen. Er beachtete wohl die Sitten seiner Gastfreunde und bildete sie während des Beobachtens zu einem
Neuen und Fremdartigen um; besonders suchte er abzulau|41|schen, was sie sich eigentlich unter ihm dächten und was für ein
Bild sie sich von ihm gemacht. Dieß Bild arbeitete er weiter aus nach seinem eigenen Geschmacke, zur vergnüglichen Unterhaltung
der Einen, welche gern etwas Neues sehen wollten, und zur Bewunderung der Anderen, besonde[r]s der Frauen, welche nach erbaulicher
Anregung dürsteten. So ward er rasch zum Helden eines artigen Romanes, an welchem er gemeinsam mit der Stadt und liebevoll
arbeitete, dessen Hauptbestandtheil aber immer noch das Geheimniß war.
Bei alldem verlebte Strapinski, was er in seiner Dunkelheit früher nie gekannt, eine schlaflose Nacht um die andere, und es
ist mit Tadel hervorzuheben, daß es eben so viel die Furcht vor der Schande, als armer Schneider entdeckt zu werden und dazustehen,
als das ehrliche Gewissen war, was ihm den Schlaf raubte. Sein angeborenes Bedürfniß, etwas Zierliches und Außergewöhnliches
vorzustellen, wenn auch nur in der Wahl der Kleider, hatte ihn in diesen Conflikt geführt und brachte jetzt auch jene Furcht
hervor, und sein Gewissen war nur insoweit mächtig, daß er beständig den Vorsatz nährte, bei guter Gelegenheit einen Grund
zur Abreise zu finden und dann durch Lotteriespiel und dergleichen die Mittel zu gewinnen, aus geheimnißvoller Ferne |42| zu vergüten, um
was er die gastfreundlichen Goldacher gebracht hatte. Er ließ sich auch schon aus allen Städten, wo es Lotterien oder Agenten
derselben gab, Loose kommen mit mehr oder weniger bescheidenem Einsatze, und die daraus entstehende Correspondenz, der Empfang
der Briefe wurde wiederum als ein Zeichen wichtiger Beziehungen und Verhältnisse vermerkt.
Schon hatte er mehr als ein Mal ein par Gulden gewonnen und dieselben sofort wieder zum Erwerb neuer Loose verwendet, als
er eines Tages von einem fremden Collecteur, der sich aber Bankier nannte, eine namhafte Summe empfing, welche hinreichte,
jenen Rettungsgedanken auszuführen. Er war bereits nicht mehr erstaunt über sein Glück, das sich von selbst zu verstehen schien,
fühlte sich aber doch erleichtert und besonders dem guten Waagwirth gegenüber beruhigt, welchen er seines guten Essens wegen
sehr wohl leiden mochte. Anstatt aber kurz abzubinden, seine Schulden gradaus zu bezahlen und abzureisen, gedachte er, wie
er sich vorgenommen, eine kurze Geschäftsreise vorzugeben, dann aber von irgend einer großen Stadt aus zu melden, daß das
unerbittliche Schicksal ihm verbiete, je wieder zu kehren; dabei wolle er seinen Verbindlichkeiten nachkommen, ein gutes Andenken
hinterlassen und seinem |43| Schneiderberufe sich auf’s Neue und mit mehr Umsicht und Glück widmen, oder auch sonst einen anständigen Lebensweg
erspähen. Am liebsten wäre er freilich auch als Schneidermeister in Goldach geblieben und hätte jetzt die Mittel gehabt, sich
da ein bescheidenes Auskommen zu begründen; allein es war klar[,] daß er hier nur als Graf leben konnte.
Wegen des sichtlichen Vorzuges und Wohlgefallens, dessen er sich bei jeder Gelegenheit von Seite des schönen Nettchens zu
erfreuen hatte, waren schon manche Redensarten im Umlauf und er hatte sogar bemerkt, daß das Fräulein hin und wieder die Gräfin
genannt wurde. Wie konnte er diesem Wesen nun eine solche Entwicklung bereiten? Wie konnte er das Schicksal, das ihn gewaltsam
so erhöht hatte, so frevelhaft Lügen strafen und sich selbst beschämen?
Er hatte von seinem Lotteriemann, genannt Bankier, einen Wechsel bekommen, welchen er bei einem Goldacher Haus einkassirte;
diese Verrichtung bestärkte abermals die günstigen Meinungen über seine Person und Verhältnisse, da die soliden Handelsleute
nicht im entferntesten an einen Lotterieverkehr dachten. An demselben Tage nun begab sich Strapinski auf einen stattlichen
Ball, zu dem er geladen war. In tiefes, einfaches Schwarz gekleidet erschien er und |44| verkündete sogleich den ihn Begrüßenden,
daß er genöthigt sei, zu verreisen.
In zehn Minuten war die Nachricht der ganzen Versammlung bekannt und Nettchen, deren Anblick Strapinski suchte, schien, wie
erstarrt, seinen Blicken auszuweichen, bald roth, bald blaß werdend. Dann tanzte sie mehrmals hinter einander mit jungen Herren,
setzte sich zerstreut und schnell athmend und schlug eine Einladung des Polen, der endlich herangetreten war, mit einer kurzen
Verbeugung aus, ohne ihn anzusehen.
Seltsam aufgeregt und bekümmert ging er hinweg, nahm seinen famosen Mantel um und schritt mit wehenden Locken in einem Gartenwege
auf und nieder. Es wurde ihm nun klar, daß er eigentlich, nur dieses Wesens halber so lange dageblieben sei, daß die unbestimmte
Hoffnung, doch wieder in ihre Nähe zu kommen, ihn unbewußt belebte, daß aber der ganze Handel eben eine Unmöglichkeit darstelle
von der verzweifeltsten Art.
Wie er so dahin schritt, hörte er rasche Tritte hinter sich, leichte, doch unruhig bewegte. Nettchen ging an ihm vorüber und
schien, nach einigen ausgerufenen Worten zu urtheilen, nach ihrem Wagen zu suchen, obgleich derselbe auf der andern Seite
des Hauses stand und hier nur Winterkohlköpfe und ein|45|gewickelte Rosenbäumchen den Schlaf der Gerechten verträumten. Dann
kam sie wieder zurück und da er jetzt mit klopfendem Herzen ihr im Wege stand und bittend die Hände nach ihr ausstreckte,
fiel sie ihm ohne Weiteres um den Hals und fing jämmerlich an zu weinen. Er bedeckte ihre glühenden Wangen mit seinen fein
duftenden dunklen Locken und sein Mantel umschlug die schlanke, stolze, schneeweiße Gestalt des Mädchens wie mit schwarzen
Adlersflügeln; es war ein wahrhaft schönes Bild, das seine Berechtigung ganz allein in sich selbst zu tragen schien.
Strapinski aber verlor in diesem Abenteuer seinen Verstand und gewann das Glück, das öfter den Unverständigen hold ist. Nettchen
eröffnete ihrem Vater noch in selbiger Nacht beim Nachhausefahren, daß kein anderer, als der Graf der Ihrige sein werde; dieser
erschien am Morgen in aller Frühe, um bei dem Vater liebenswürdig schüchtern und melancholisch, wie immer, um sie zu werben,
und der Vater hielt folgende Rede:
„So hat sich denn das Schicksal und der Wille dieses thörichten Mädchens erfüllt! Schon als Schulkind behauptete sie fortwährend
nur einen Italiener oder einen Polen, einen großen Pianisten oder einen Räuberhauptmann mit schönen Locken heirathen zu |46|
wollen, und nun haben wir die Bescheerung! Alle inländischen wohlmeinenden Anträge hat sie ausgeschlagen, noch neulich mußte
ich den gescheidten und tüchtigen Melchior Böhni heimschicken, der noch große Geschäfte machen wird, und sie hat ihn noch
schrecklich verhöhnt, weil er nur ein röthliches Backenbärtchen trägt und aus einem silbernen Döschen schnupft! Nun, Gott sei Dank, ist ein polnischer Graf da aus wildester
Ferne! Nehmen Sie die Gans, Herr Graf, und schicken sie [Sie] mir dieselbe wieder, wenn sie in Ihrer Polackei friert und einst
unglücklich wird und heult! Ach, was würde die selige Mutter für ein Entzücken genießen, wenn sie noch erlebt hätte, das daß
[daß das] verzogene Kind eine Gräfin geworden ist!“
Nun gab es große Bewegung; in wenig Tagen sollte rasch die Verlobung gefeiert werden, denn der Amtsrath behauptete, daß der
künftige Schwiegersohn sich in seinen Geschäften und vorhabenden Reisen nicht durch Heirathssachen dürfe aufhalten lassen,
sondern diese durch die Beförderung jener beschleunigen müsse.
Strapinski brachte zur Verlobung Brautgeschenke, welche ihn die Hälfte seines zeitlichen Vermögens kosteten; die andere Hälfte
verwandelte er zu einem Feste, das er seiner Braut geben wollte. Es war |47| eben Fastnachtszeit und bei hellem Himmel ein
verspätetes glänzendes Winterwetter. Die Landstraßen boten die prächtigste Schlittenbahn, wie sie nur selten entsteht und
sich hält, und Herr von Strapinski veranstaltete darum eine Schlittenfahrt und einen Ball in dem für solche Feste beliebten
stattlichen Gasthause, welches auf einer Hochebene mit der schönsten Aussicht gelegen war, etwa zwei gute Stunden entfernt und genau in der Mitte zwischen Goldach und Seldwyla.
Um diese Zeit geschah es, daß Herr Melchior Böhni in der letzteren Stadt Geschäfte zu besorgen hatte und daher einige Tage
vor dem Winterfest in einem leichten Schlitten dahin fuhr, seine beste Cigarre rauchend; und es geschah ferner, daß die Seldwyler
auf den gleichen Tag, wie die Goldacher, auch eine Schlittenfahrt verabredeten, nach dem gleichen Orte, und zwar eine kostümirte
oder Maskenfahrt.
So fuhr denn der Goldacher Schlittenzug gegen die Mittagsstunde unter Schellenklang, Posthorntönen und Peitschenknall durch
die Straßen der Stadt, daß die Sinnbilder der alten Häuser erstaunt herniedersahen, und zum Thore hinaus. Im ersten Schlitten
saß Strapinski mit seiner Braut, in einem polnischen Ueberrock von grünem Sammet, mit Schnüren besetzt und schwer mit Pelz
verbrämt und gefüttert. |48| Nettchen war ganz in weißes Pelzwerk gehüllt; blaue Schleier schützten ihr Gesicht gegen die
frische Luft und gegen den Schneeglanz. Der Amtsrath war durch irgend ein plötzliches Ereigniß verhindert worden, mitzufahren;
doch war es sein Gespann und sein Schlitten, in welchem sie fuhren, ein vergoldetes Frauenbild als Schlittenzierath vor sich,
die Fortuna vorstellend; denn die Stadtwohnung des Amtsrathes hieß zur Fortuna.
Ihnen folgten fünfzehn bis sechszehn Gefährte mit je einem Herren und einer Dame, alle geputzt und lebensfroh, aber keines
der Paare so schön und stattlich, wie das Brautpaar. Die Schlitten trugen, wie die Meerschiffe ihre Galions, immer das Sinnbild
des Hauses, dem jeder angehörte, so daß das Volk rief: Seht, da kommt die Tapferkeit! wie schön ist die Tüchtigkeit! Die Verbesserlichkeit
scheint neu lackirt zu sein und die Sparsamkeit frisch vergoldet! Ah, der Jakobsbrunnen und der Teich Bethesda! Im Teiche
Bethesda, welcher als bescheidener Einspänner den Zug schloß, kutschirte Melchior Böhni still und vergnügt. Als Galion seines
Fahrzeugs hatte er das Bild jenes jüdischen Männchens vor sich, welcher an besagtem Teiche dreißig Jahre auf sein Heil gewartet.
So segelte denn das Geschwader im Sonnenscheine dahin und erschien bald auf der weit|49|hin schimmernden Höhe, dem Ziele sich
nahend. Da ertönte gleichzeitig von der entgegengesetzten Seite lustige Musik.
Aus einem duftig bereiften Walde heraus brach ein Wirrwarr von bunten Farben und Gestalten und entwickelte sich zu einem Schlittenzug,
welcher hoch am weißen Feldrande sich auf den blauen Himmel zeichnete und ebenfalls nach der Mitte der Gegend hinglitt, von
abenteuerlichem Anblick. Es schienen meistens große bäuerliche Lastschlitten zu sein, je zwei zusammen gebunden, um absonderlichen
Gebilden und Schaustellungen zur Unterlage zu dienen.
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