Auf dem vordersten Fuhrwerke ragte eine kolossale Figur empor, die Göttin
Fortuna vorstellend, welche in den Aether hinaus zu fliegen schien. Es war eine riesenhafte Strohpuppe voll schimmernden Flittergoldes,
deren Gazegewänder in der Luft flatterten. Auf dem zweiten Gefährte aber fuhr ein ebenso riesenmäßiger Ziegenbock einher,
schwarz und düster abstechend und mit gesenkten Hörnern der Fortuna nachjagend. Hierauf folgte ein seltsames Gerüste, welches
sich als ein fünfzehn Schuh hohes Bügeleisen darstellte, dann eine gewaltig schnappende Scheere, welche mittelst einer Schnur
auf und zugeklappt wurde und das Himmelszelt für einen blau seidenen Westenstoff anzusehen schien. Andere solche landläufige
Anspie|50|lungen auf das Schneiderwesen folgten noch und zu Füßen aller dieser Gebilde saß auf den geräumigen, je von vier
Pferden gezogenen Schlitten die Seldwyler Gesellschaft in buntester Tracht, mit lautem Gelächter und Gesang.
Als beide Züge gleichzeitig auf dem Platze vor dem Gasthause auffuhren, gab es demnach einen geräuschvollen Auftritt und ein
großes Gedränge von Menschen und Pferden. Die Herrschaften von Goldach waren überrascht und erstaunt über die abenteuerliche
Begegnung; die Seldwyler dagegen stellten sich vorerst gemüthlich und freundschaftlich bescheiden. Ihr vorderster Schlitten mit der Fortuna trug die Inschrift „Leute machen Kleider“ und so ergab es sich denn,
daß die ganze Gesellschaft lauter Schneidersleute von allen Nationen und aus allen Zeitaltern darstellte. Es war gewissermaßen
ein historisch-ethnographischer Schneiderfestzug, welcher mit der umgekehrten und ergänzenden Inschrift abschloß: „Kleider
machen Leute!“ In dem letzten Schlitten mit dieser Ueberschrift saßen nämlich, als das Werk der vorausgefahrenen heidnischen
und christlichen Nahtbeflissenen aller Art, ehrwürdige Kaiser und Könige, Rathsherren und Stabsoffiziere, Prälaten und Stiftsdamen
in höchster Gravität.
Diese Schneiderwelt wußte sich gewandt aus dem |51| Wirrwarr zu ordnen und ließ die Goldacher Herren und Damen, das Brautpaar
an deren Spitze, bescheiden in’s Haus spazieren, um nachher die unteren Räume desselben, welche für sie bestellt waren, zu
besetzen, während jene die breite Treppe empor nach dem großen Festsaale rauschten. Die Gesellschaft des Herren Grafen fand
dies Benehmen schicklich und ihre Ueberraschung verwandelte sich in Heiterkeit und beifälliges Lächeln über die unverwüstliche
Laune der Seldwyler; nur der Graf selbst hegte gar dunkle Empfindungen, die ihm nicht behagten, obgleich er in der jetzigen
Voreingenommenheit seiner Seele keinen bestimmten Argwohn verspürte und nicht einmal bemerkt hatte, woher die Leute gekommen waren. Melchior Böhni der seinen Teich Bethesda sorglich bei Seite gebracht hatte und sich aufmerksam in der Nähe
Strapinskis befand, nannte laut, daß dieser es hören konnte, eine ganz andere Ortschaft als den Ursprungsort des Maskenzuges.
Bald saßen beide Gesellschaften, jegliche auf ihrem Stockwerke, an den gedeckten Tafeln und gaben sich fröhlichen Gesprächen
und Scherzreden hin, in Erwartung weiterer Freuden.
Die kündigten sich denn auch für die Goldacher an, als sie paarweise in den Tanzsaal hinüber schritten und dort die Musiker
schon ihre Geigen stimmten. |52| Wie nun aber Alles im Kreise stand und sich zum Reihen ordnen wollte, erschien eine Gesandtschaft
der Seldwyler, welche das freundnachbarliche Gesuch und Anerbieten vortrug, den Herren und Frauen von Goldach einen Besuch
abstatten zu dürfen und ihnen zum Ergötzen einen Schautanz aufzuführen. Dieses Anerbieten konnte nicht wohl zurückgewiesen
werden; auch versprach man sich von den lustigen Seldwylern ein tüchtigen Spaß und setzte sich daher nach der Anordnung der
besagten Gesandtschaft in einem großen Halbring, in dessen Mitte Strapinski und Nettchen glänzten gleich fürstlichen Sternen.
Nun traten allmählig jene besagten Schneidergruppen nach einander ein. Jede führte in zierlichem Gebehrdenspiel den Satz „Leute
machen Kleider“ und dessen Umkehrung durch, indem sie erst mit Emsigkeit irgend ein stattliches Kleidungsstück, einen Fürstenmantel, Priestertalar
u. dergl. anzufertigen schien und sodann eine dürftige Person damit bekleidete, welche urplötzlich umgewandelt sich in höchstem
Ansehen aufrichtete und nach dem Takte der Musik feierlich einherging. Auch die Thierfabel wurde in diesem Sinne in Scene
gesetzt, da eine gewaltige Krähe erschien, die sich mit Pfauenfedern schmückte und quackend umherhüpfte, ein Wolf, der sich
einen Schafspelz zurecht schneiderte, schließlich ein Esel, |53| der eine furchtbare Löwenhaut von Werg trug und sich heroisch
damit drappirte, wie mit einem Carbonarimantel.
Alle die so erschienen traten nach vollbrachter Darstellung zurück und machten allmählig so den Halbkreis der Goldacher zu
einem weiten Ring von Zuschauern, dessen innerer Raum endlich leer ward. In diesem Augenblicke ging die Musik in eine wehmüthig
ernste Weise über und zugleich beschritt eine letzte Erscheinung den Kreis, dessen Augen sämmtlich auf sie gerichtet waren.
Es war ein schlanker junger Mann in dunklem Mantel, dunkeln schönen Haaren und mit einer polnischen Mütze; es war Niemand
anders als der Graf Strapinski, wie er an jenem Novembertag auf der Straße gewandert und den verhängnißvollen Wagen bestiegen
hatte.
Die ganze Versammlung blickte lautlos gespannt auf die Gestalt, welche feierlich schwermüthig einige Gänge nach dem Takte der Musik umher trat, dann in die Mitte des Ringes
sich begab, den Mantel auf den Boden breitete, sich schneidermäßig darauf niedersetzte und anfing ein Bündel auszupacken.
Er zog einen beinahe fertigen Grafenrock hervor, ganz wie ihn Strapinski in diesem Augenblicke trug, nähete mit großer Hast
und Geschicklichkeit Troddeln und Schnüre darauf und bügelte ihn schulgerecht aus, in|54|dem er das scheinbar heiße Bügeleisen
mit nassen Fingern prüfte. Dann richtete er sich langsam auf, zog seinen fadenscheinigen Rock aus und das Prachtkleid an,
nahm ein Spiegelchen, kämmte sich und vollendete seinen Anzug, daß er endlich als das leibhafte Ebenbild des Grafen dastand.
Unversehens ging die Musik in eine rasche, muthige Weise über, der Mann wickelte seine Siebensachen in den alten Mantel und
warf das Pack weit über die Köpfe der Anwesenden hinweg in die Tiefe des Saales, als wollte er sich ewig von seiner Vergangenheit
trennen. Hierauf beging er als stolzer Weltmann in stattlichen Tanzschritten den Kreis, hie und da sich vor den Anwesenden
huldreich verbeugend, bis er vor das Brautpaar gelangte. Plötzlich faßte er den Polen, ungeheuer überrascht, fest in’s Auge,
stand als eine Säule vor ihm still, während gleichzeitig wie auf Verabredung die Musik aufhörte und eine fürchterliche Stille
wie ein stummer Blitz einfiel.
„Ei ei ei ei![“] rief er mit weithin vernehmlicher Stimme und reckte den Arm gegen den Unglücklichen aus, „sieh da den Bruder
Schlesier, den Wasserpolacken! Der mir aus der Arbeit gelaufen ist, weil er wegen einer kleinen Geschäftsschwankung glaubte,
es sei zu Ende mit mir. Nun es freut mich, daß es Ihnen so lustig geht und Sie hier so fröh|55|liche Fastnacht halten! Stehen
Sie in Arbeit zu Goldach?“
Zugleich gab er dem bleich und lächelnd dasitzenden Grafensohn die Hand, welche dieser willenlos ergriff wie eine feurige
Eisenstange, während der Doppelgänger rief: „Kommt Freunde, seht hier unsern sanften Schneidergesellen, der wie ein Raphael
aussieht und unsern Dienstmägden, auch der Pfarrerstochter so wohl gefiel, die freilich ein bischen übergeschnappt ist!“
Nun kamen die Seldwyler Leute alle herbei und drängten sich um Strapinski und seinen ehemaligen Meister, indem sie ersterem
treuherzig die Hand schüttelten, daß er auf seinem Stuhle schwankte und zitterte. Gleichzeitig setzte die Musik wieder ein
mit einem lebhaften Marsch; die Seldwyler, sowie sie an dem Brautpaar vorüber waren, ordneten sich zum Abzuge und marschirten
unter Absingung eines wohl einstudirten diabolischen Lachchores aus dem Saale, während die Goldacher, unter welchen Böhni
die Erklärung des Mirakels blitzschnell zu verbreiten gewußt hatte, durcheinander liefen und sich mit den Seldwylern kreuzten, so daß es einen großen Tumult gab.
Als dieser sich endlich legte, war auch der Saal beinahe leer; wenige Leute standen an den Wänden |56| und flüsterten verlegen
untereinander; ein par junge Damen hielten sich in einiger Entfernung von Nettchen, unschlüssig, ob sie sich derselben nähern
sollten oder nicht.
Das Paar aber saß unbeweglich auf seinen Stühlen gleich einem steinernen egyptischen Königspaar, ganz still und einsam; man
glaubte den unabsehbaren glühenden Wüstensand zu fühlen.
Nettchen, weiß wie ein Marmor, wendete das Gesicht langsam nach ihrem Bräutigam und sah ihn seltsam von der Seite an.
Da stand er langsam auf und ging mit schweren Schritten hinweg, die Augen auf den Boden gerichtet, während große Thränen aus
denselben fielen.
Er ging durch die Goldacher und Seldwyler, welche die Treppen bedeckten, hindurch wie ein Todter, der sich gespenstisch von
einem Jahrmarkt stiehlt, und sie ließen ihn seltsamer Weise auch wie einen solchen passiren, indem sie ihm still auswichen
ohne zu lachen oder harte Worte nachzurufen. Er ging auch zwischen den zur Abfahrt gerüsteten Schlitten und Pferden von Goldach
hindurch, indessen die Seldwyler sich in ihrem Quartiere erst noch recht belustigten, und er wandelte halb unbewußt, nur in der Meinung, nicht mehr nach Goldach zurückzukommen, dieselbe Straße gegen Seldwyla hin, auf |57| welcher er vor einigen
Monaten hergewandert war. Bald verschwand er in der Dunkelheit des Waldes, durch welchen sich die Straße zog. Er war barhäuptig,
denn seine Polenmütze war im Fenstergesimse des Tanzsaales liegen geblieben nebst den Handschuhen, und so schritt er denn
gesenkten Hauptes und die frierenden Hände unter die gekreuzten Arme bergend vorwärts, während seine Gedanken sich allmählig
sammelten und zu einigem Erkennen gelangten. Das erste deutliche Gefühl, dessen er inne wurde, war dasjenige einer ungeheuren
Schande, gleich wie wenn er ein wirklicher Mann von Rang und Ansehen gewesen und nun infam geworden wäre durch Hereinbrechen
irgend eines verhängnißvollen Unglückes. Dann löste sich dieses Gefühl aber auf in eine Art Bewußtsein erlittenen Unrechtes;
er hatte sich bis zu seinem glorreichen Einzug in die verwünschte Stadt nie ein Vergehen zu Schulden kommen lassen; soweit
seine Gedanken in die Kindheit zurückreichten, war ihm nicht erinnerlich, daß er je wegen einer Lüge oder einer Täuschung
gestraft oder gescholten worden wäre, und nun war er ein Betrüger geworden dadurch, daß die Thorheit der Welt ihn in einem
unbewachten und so zu sagen wehrlosen Augenblicke überfallen und ihn zu ihrem Spielgesellen gemacht hatte. Er kam sich wie ein Kind vor, welches ein |58| anderes boshaftes Kind überredet hat, von einem Altare den Kelch zu stehlen; er haßte
und verachtete sich jetzt, aber er weinte auch über sich und seine unglückliche Verirrung.
Wenn ein Fürst Land und Leute nimmt, wenn ein Priester die Lehre seiner Kirche ohne Ueberzeugung verkündet, aber die Güter
seiner Pfründe mit Würde verzehrt; wenn ein dünkelvoller Lehrer die Ehren und Vortheile eines hohen Lehramtes inne hat und
genießt, ohne von der Höhe seiner Wissenschaft den mindesten Begriff zu haben und derselben auch nur den kleinsten Vorschub
zu leisten; wenn ein Künstler ohne Tugend, mit leichtfertigem Thun und leerer Gaukelei sich in Mode bringt un[d] Brot und
Ruhm der wahren Arbeit vorwegstiehlt; oder wenn ein Schwindler, der einen großen Kaufmannsnamen geerbt oder erschlichen hat,
durch seine Thorheiten und Gewissenlosigkeiten Tausende um ihre Ersparnisse und Nothpfennige bringt, so weinen alle diese
nicht über sich, sondern erfreuen sich ihres Wohlseins und bleiben nicht einen Abend ohne aufheiternde Gesellschaft und gute
Freunde.
Unser Schneider aber weinte bitterlich über sich d. h. er fing solches plötzlich an, als nun seine Gedanken an der schweren Kette, an der sie hingen, unversehens zu der verlassenen
Braut zurückkehrten und |59| sich aus Scham vor der Unsichtbaren zur Erde krümmten. Das Unglück und die Erniedrigung zeigten ihm mit Einem hellen Strahle das verlorene Glück und machten aus dem unklar
verliebten Irrgänger einen verstoßenen Liebenden.
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