ALBANIEN.
Er ist nicht hier.
BOTE.
Mein gnäd'ger Herr, ich traf ihn auf dem Rückweg.
ALBANIEN.
Weiß er die Greueltat?
BOTE.
Ja, gnäd'ger Herr! Er war's, der ihn verriet,
Und den Palast vorsätzlich mied, der Strafe
So freiern Lauf zu lassen.
ALBANIEN.
Ich lebe, Gloster,
Die Treu', die du dem König zeigst, zu lohnen,
Und dein Gesicht zu rächen! – Folg' mir, Freund,
Und sag mir, was du sonst noch weißt.
Sie gehn ab.
Dritte Szene.
Das französische Lager bei Dover.
Es treten auf Kent und ein Ritter.
KENT. Warum der König von Frankreich so plötzlich zurückgegangen ist: wißt Ihr die Ursach'?
EDELMANN.
Es war ein Staatsgeschäft noch nicht vollendet,
Das nach der Landung er bedacht; es drohte
Dem Königreich so viel Gefahr und Schrecken,
Daß eigne Gegenwart höchst dringend schien
Und unvermeidlich.
KENT.
Wenn ließ er hier zurück als seinen Feldherrn?
EDELMANN.
Den Marschall Frankreichs, Monseigneur le Fèr.
KENT. Reizten Eure Briefe die Königin nicht zu Äußerungen des Schmerzes?
EDELMANN.
Jawohl, sie nahm sie, las in meinem Beisein,
Und dann und wann rollt' eine volle Träne
Die zarte Wang' herab; es schien, daß sie
Als Kön'gin ihren Schmerz regierte, der
Rebellisch wollt' ihr König sein.
KENT.
Oh, dann
Ward sie bewegt.
EDELMANN.
Doch nicht zum Zorn. Geduld und Kummer stritten,
Wer ihr den stärksten Ausdruck lieh. Ihr saht
Regen zugleich und Sonnenschein: ihr Lächeln
Und ihre Tränen war wie Frühlingstag.
Dies sel'ge Lächeln, das die frischen Lippen
Umspielte, schien, als wiss' es um die Gäste
Der Augen nicht, die so von diesen schieden,
Wie Perlen von Demanten tropfen. Kurz,
Der Gram würd' als ein Schatz gesucht, wenn jeden
Er also schmückte.
KENT.
Hat sie nichts gesprochen?
EDELMANN.
Ja, mehrmals seufzte sie den Namen »Vater«
Stöhnend hervor, als preßt' er ihr das Herz:
Rief: »Schwestern! Schwestern! Schmach der Frauen! Schwestern!
Kent! Vater! Schwestern! Was, in Sturm und Nacht?
Glaubt an kein Mitleid mehr!« Dann strömten ihr
Die heil'gen Tränen aus den Himmelsaugen,
Und netzten ihren Laut; sie stürzte fort,
Allein mit ihrem Gram zu sein.
KENT.
Die Sterne,
Die Sterne bilden unsre Sinnesart,
Sonst zeugte nicht so ganz verschiedne Kinder
Ein und dasselbe Paar. – Spracht Ihr sie noch?
EDELMANN.
Nein.
KENT.
War's vor des Königs Reise?
EDELMANN.
Nein, hernach.
KENT.
Gut, Herr!
Der arme kranke Lear ist in der Stadt;
Manchmal in beßrer Stimmung wird's ihm klar,
Warum wir hier sind, und auf keine Weise
Will er die Tochter sehn.
EDELMANN.
Weshalb nicht, Herr? –
KENT.
Ihn überwältigt so die Scham – sein harter Sinn,
Der seinen Segen ihr entzog, sie preis gab
Dem fremden Zufall, und ihr teures Erbrecht
Den hünd'schen Töchtern lieh, – das alles sticht
So giftig ihm das Herz, daß glüh'nde Scham
Ihn von Cordelien fern hält.
EDELMANN.
Armer Herr!
KENT.
Wißt Ihr von Cornwalls und Albaniens Macht?
EDELMANN.
's ist wie gesagt: sie stehn im Feld.
KENT.
Ich bring' Euch jetzt zu unserm König Lear,
Und lass' ihn Eurer Pflege. Wicht'ge Gründe
Gebieten, mich verborgen noch zu halten;
Geb' ich mich kund, so wird's Euch nicht gereuen,
Daß Ihr mich jetzt gekannt. Ich bitt' Euch, kommt,
Begleitet mich!
Sie gehn ab.
Vierte Szene.
Freies Feld. Trommeln und Fahnen. Cordelia, ein Arzt, Gefolge, Edelleute und Soldaten treten auf.
CORDELIA.
O Gott, er ist's; man traf ihn eben noch
In Wut, wie das empörte Meer; laut singend,
Bekränzt mit wildem Erdrauch, Windenranken,
Mit Kletten, Schierling, Nesseln, Kuckucksblumen
Und allem müß'gen Unkraut, welches wächst
Im nährenden Weizen. Hundert schickt und mehr;
Durchforscht jedwedes hochbewachsne Feld
Und bringt ihn zu uns! – Was vermag die Kunst,
Ihm herzustellen die beraubten Sinne?
Er, der ihn heilt, nehm' alle meine Schätze!
ARZT.
Es gibt noch Mittel, Fürstin!
Die beste Wärt'rin der Natur ist Ruhe,
Die ihm gebricht; und diese ihm zu schenken,
Vermag manch wirksam Heilkraut, dessen Kraft
Des Wahnsinns Augen schließen wird.
CORDELIA.
All ihr gesegneten, geheimen Wunder,
All ihr verborgnen Kräfte der Natur,
Sprießt auf durch meine Tränen! Lindert, heilt
Des guten Greises Weh! Sucht, sucht nach ihm,
Eh' seine blinde Wut das Leben löst,
Das sich nicht führen kann.
Ein Bote tritt auf.
BOTE.
Vernehmt, Mylady,
Die brit'sche Macht ist auf dem Zug hieher.
CORDELIA.
Man wußt' es schon; und wir sind vorbereitet,
Sie zu empfangen. Oh, mein teurer Vater,
Für deine Wohlfahrt hab' ich mich gerüstet;
Drum hat der große Frankreich
Mein Trauern, meiner Tränen Flehn erhört.
Nicht luft'ger Ehrgeiz treibt uns zum Gefecht,
Nur brünst'ge Lieb' und unsers Vaters Recht;
Möcht' ich doch bald ihn sehn und ihn vernehmen!
Sie gehn ab.
Fünfte Szene.
Regans Schloß. Es treten auf Regan und der Haushofmeister.
REGAN.
Doch steht des Bruders Macht im Feld?
HAUSHOFMEISTER.
Ja, Fürstin.
REGAN.
Er selbst zugegen?
HAUSHOFMEISTER.
Ja, mit vieler Not;
Eure Schwester ist der bessere Soldat.
REGAN.
Lord Edmund sprach mit deinem Herzog nicht?
HAUSHOFMEISTER.
Nein, gnäd'ge Frau!
REGAN.
Was mag der Schwester Brief an ihn enthalten?
HAUSHOFMEISTER.
Ich weiß nicht, Fürstin.
REGAN.
Gewiß, ihn trieb ein ernst Geschäft von hier.
Sehr töricht war's, dem Gloster nach der Blendung
Das Leben lassen; wohin er kommt, bewegt er
Die Herzen wider uns. Edmund, vermut' ich,
Aus Mitleid seines Elends, ging zu enden
Sein nächtlich Dasein, und erforscht zugleich
Des Feindes Stärke.
HAUSHOFMEISTER.
Ich muß durchaus ihm nach mit meinem Brief.
REGAN.
Das Heer rückt morgen aus; bleibt hier mit uns;
Gefährlich sind die Weg'.
HAUSHOFMEISTER.
Ich darf nicht, Fürstin;
Mylady hat mir's dringend eingeschärft.
REGAN.
Was brauchte sie zu schreiben? Könnt'st du nicht
Mündlich bestellen dein Geschäft? – Vielleicht –
Etwas – ich weiß nicht was: – ich will dir gut sein,
Laß mich den Brief entsiegeln!
HAUSHOFMEISTER.
Lieber möcht' ich –
REGAN.
Ich weiß, die Herzogin haßt ihren Gatten:
Das ist gewiß; bei ihrem letzten Hiersein
Liebäugte sie mit sehr beredten Blicken
Dem edlen Edmund; du bist ihr Vertrauter.
HAUSHOFMEISTER.
Ich, Fürstin?
REGAN.
Ich rede mit Bedacht: ich weiß, du bist's.
Drum rat' ich dir, nimm diese Weisung an:
Mein Mann ist tot; Edmund und ich sind einig;
Und besser paßt er sich für meine Hand,
Als deiner Herrin: – schließe weiter selbst!
Wenn du ihn find'st, so bitt' ich, gib ihm dies;
Und wenn's die Herzogin von dir vernimmt,
Ermahne sie, Vernunft zu Rat zu ziehn!
Und somit lebe wohl!
Triffst du vielleicht den blinden Hochverräter,
Ein reicher Lohn wird dem, der ihn erschlägt.
HAUSHOFMEISTER.
Ich wollt', ich fand' ihn, Fürstin, daß Ihr säht,
Mit wem ich's halte.
REGAN.
So gehab' dich wohl!
Sie gehn ab.
Sechste Szene.
Gegend bei Dover.
Es treten auf Gloster und Edgar in Bauerntracht.
GLOSTER.
Wann kommen wir zum Gipfel dieses Bergs?
EDGAR.
Ihr klimmt hinan: seht nur, wie schwer es geht! –
GLOSTER.
Mich dünkt, der Grund ist eben.
EDGAR.
Furchtbar steil!
Horcht! Hört Ihr nicht die See?
GLOSTER.
Nein, wahrlich nicht! –
EDGAR.
Dann wurden Eure andern Sinne stumpf
Durch Eurer Augen Schmerz.
GLOSTER.
Das mag wohl sein.
Mich dünkt, dein Laut ist anders, und du sprichst
Mit besserm Sinn und Ausdruck als zuvor.
EDGAR.
Ihr täuscht Euch sehr: ich bin in nichts verändert
Als in der Tracht.
GLOSTER.
Mich dünkt, du sprächest besser.
EDGAR.
Kommt, Herr, hier ist der Ort: steht still! Wie grau'nvoll
Und schwindelnd ist's, so tief hinab zu schaun! –
Die Kräh'n und Dohlen, die die Mitt' umflattern,
Sehn kaum wie Käfer aus – halbwegs hinab
Hängt einer, Fenchel sammelnd, – schrecklich Handwerk!
Mich dünkt, er scheint nicht größer als sein Kopf.
Die Fischer, die am Strande gehn entlang,
Sind Mäusen gleich; das hohe Schiff am Anker
Verjüngt zu seinem Boot; das Boot zum Tönnchen,
Beinah' zu klein dem Blick; die dumpfe Brandung,
Die murmelnd auf zahllosen Kieseln tobt,
Schallt nicht bis hier. – Ich will nicht mehr hinabsehn,
Daß nicht mein Hirn sich dreht, mein wirrer Blick
Mich taumelnd stürzt hinab.
GLOSTER.
Stell' mich, wo du stehst!
EDGAR.
Gebt mir die Hand: Ihr seid nur einen Fuß
Vom letzten Rand. Für alles unterm Mond
Tät' ich hier keinen Sprung.
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