Er nahm den Adreßkalender vor und machte für jedes Pfarrdorf, das er darin fand, eine Bittschrift vorrätig, die er so lange beiseite legte, bis sein Antezessor verstarb. Bloß um Hukelum hielt er nicht an. Es ist eine schöne Observanz in Flachsenfingen, daß man sich um alle Ämter melden muß, die offen stehen. So wie der höhere Nutzen des Gebets nicht in seiner Erfüllung besteht, sondern darin, daß man sich im Beten übt: so sollen Bittschreiben aufgesetzet werden, nicht damit man Ämter erhalte – das muß durch Geld geschehen –, sondern damit man eine Supplik schreiben lerne. Freilich wird, wenn schon bei den Kalmücken das Drehen einer Kapsel26 die Stelle des Gebetes vertritt, eine geringe Bewegung des Beutels so viel sein, als suppliziere man wörtlich.
Gegen Abend – Sonntags gar – schweifte er im Dorfe herum, wallfahrtete zu seinen Spielplätzen und auf den Gemeindeanger, auf den er sonst seine Schnecken zur Weide getrieben – suchte den Bauer auf, der ihn von der Schule her zum Erstaunen der andern duzen durfte – ging als akademischer Lehrer zum Schulmeister, dann zum Senior – dann in die Episkopalscheune oder Kirche. Das letztere versteht kein Mensch: es brannten nämlich vor dreiundvierzig Jahren die Kirche (der Turm nicht), das Pfarrhaus und – was nicht wieder herzustellen war – die Kirchenbücher ab. Daher wußten in Hukelum die wenigsten Leute, wie alt sie waren, und des Quintus Gedechtnisfibern selber schwankten zwischen dem zwei- und dreiunddreißigsten Jahre. Folglich mußte da geprediget werden, wo sonst gedroschen wird, und der Same des göttlichen Worts wurde mit dem physischen auf einer Tenne geworfelt: der Kantor und die Schuljugend besetzten die Tenne, die weiblichen Mutterkirchleute standen in der einen Panse, die Schadecker Filial-Weiber in der andern, und ihre Männer hockten pyramidenweise, wie Groschen- und Hellergalerien, an den Scheun-Leitern hinauf, und oben vom Strohboden horchten vermischte Seelen herunter. Eine kleine Flöte war das Orgelwerk und eine umgestürzte Bierkufe der Altar, um den man gehen mußte. Ich 30 gestehe, ich selber würde da nicht ohne Laune gepredigt haben. Der Senior (damals war er noch Junior) wohnte und dozierte unter dem Pfarrbau im Schlosse; daher Fixlein daselbst mit dem Fräulein die Anomala trieb.
Waren diese Entdeckungsreisen zurückgelegt: so konnte unser Hukelumsfahrer noch nach dem Abendgebet mit Thiennetten Blattläuse von den Rosen, Regenwürmer von den Beeten nehmen und einen Freudenhimmel von jeder Minute – jeder Abendtautropfen war mit Freuden- und Nelkenöl gefärbt – jeder Stern war ein Sonnenblick der Glückssonne – und im zugeschnürten Herzen des Mädchens lag nahe an ihm hinter einer kleinen Scheidewand (wie nahe am Heiligen hinter dem dünnen Leben) ein ausgedehntes Blütenparadies.... Ich meine, sie liebte ihn ein wenig.
Er sollt' es wissen. Aber seine beklommene Wonne verdünnte er, wenn er zu Bette ging, durch kindische Erinnerungen auf der Treppe. Als Kind betete er nämlich wie einen Rosenkranz unter dem Bett-Zudeck als Abendgebet vierzehn biblische Sprüche, den ersten Vers »Nun danket alle Gott«, das Zehnte Gebot und noch einen langen Segen. Um nun eher fertig zu werden, fing er seine Gebete nicht bloß unten auf der Treppe, sondern schon an dem Orte an, wo Alexander den Menschen und Semler dumme Skribenten studierte. – Lief er am Hafen der Flaumwogen ein: so war er mit seiner Abendandacht fertig, und er konnte nun ohne eine weitere Anstrengung mit zugedrückten Augen gerade in die Federn und in den Schlummer plumpen. – – So steckt im kleinsten homunculus schon der Bauriß zur – katholischen Kirche.
So weit die Hundstage des Quintus Zebedäus Egidius Fixlein. – Ich schließe schon zum zweitenmal die Kapitel dieser Lebensbeschreibung, wie ein Leben, mit einem Schlaf.
Dritter Zettelkasten
Weihnachts-Chiliasmus – neuer Zufall
Uns alle zieht eine Garnitur von faden flachen Tagen wie von Glasperlen ins Grab, die nur zuweilen eine orientalische wie ein Knoten abteilt. Aber man stirbt murrend, wenn man nicht wie der Quintus sein Leben für eine Trommel ansieht: diese hat nur einen einzigen Ton, aber die Verschiedenheit des Zeitmaßes gibt diesem Tone Belustigung genug. Der Quintus dozierte in quarta, vikarierte in secunda, schrieb am Pulte in der gewöhnlichen Monotonie des Lebens fort – von den Ferien an – bis zu dem heiligen Weihnachtsabend 1791, und nichts war denkwürdig als bloß dieser Abend, den ich nun malen will.
Aber ich werde diesen Abend allezeit noch malen können, wenn ich vorher mit wenigem berichtet habe, wie er sich gleich Zugvögeln über den düstern nebelnden Herbst wegschwang. Er machte sich nämlich über das Hamburger politische Journal, womit der Bediente Knöpfe kouvertieren wollen. Er konnte ruhig und mit dem Rücken am Ofen die Winterkampagnen des vorigen Jahrs mitmachen – und jeder Schlacht, wie die Aasgeier der pharsalischen, nachfliegen – er konnte auf dem Druckpapier froh und wundernd um die deutschen Triumphbögen und Gerüste zu Freudenfeuerwerken herumgehen, indes die Leute in der Stadt, die nur die neuesten Zeitungen hielten, kaum die Trümmer der von den Frankreichern boshaft niedergerissenen Trophäen behielten – ja er konnte schon mit alten Planen die Feinde zurücktreiben, indes neuere Leser sich vergeblich mit neuen wehrten. – –
Aber nicht bloß die Leichtigkeit, die Gallier zu übermeistern, bestach ihn für das Journal, sondern auch der Umstand, daß letzteres – gratis war. Er war auffallend auf frankierte Lektüre ersessen. Ist es nicht daraus zu erklären, daß er sich, wie Morhof rät, die einzelnen Hefte von Makulaturbögen, wie sie der Kramladen ausgab, fleißig sammelte und in solchen wie Virgil im Ennius scharrte? Ja für ihn war der Krämer ein Fortius (der Gelehrte) oder ein Friedrich (der König), weil beide letztere sich aus kompletten Büchern nur die Blätter schnitten, an denen etwas war. Eben diese Achtung für alle Makulatur nahm ihn für die Vorschürzen gallischer Köche ein, welche bekanntlich aus vollgedrucktem Papier bestehen; und er wünschte oft, ein Deutscher übersetzte die Schürzen: ich berede mich gern, daß eine gute Version von mehr als einem solchen papiernen Bürzel und Schurz unsere Literatur (diese Muse à belles fesses) emporbringen und ihr statt eines Geifertuches dienen könnte. – Der Mensch legt auf viele Sachen ein pretium affectionis, bloß weil er sie halb gestohlen zu haben hofft: aus diesem mit dem vorigen zusammenhängenden Grunde fing der Quintus alles gläubig auf, was er entweder in einem collegio publico oder als hospes wegschnappte; nur Meinungen, für die er den Professor bezahlen mußte, prüft' er streng. – Ich komme wieder auf den verschobenen Weihnachtsabend zurück.
Eben da war Egidius froh, daß draußen Müller und Bäcker ein ander schlugen – wie man das wehende Schneien in großen Flocken nennt – und daß die Eisblumen der Fenster aufblühten denn er hatte äußern Frost bei Stubenhitze gern –: er konnte nun Pechholz in den Ofen und Möhrenkaffee in den Magen nachlegen und den rechten Fuß (statt in den Pantoffel) in die warme Hüfte des Pudels schieben und doch noch auf dem linken den Starmatz schaukeln, der die Nase des alten Schilles abraupte, indes er mit der rechten Hand – mit der linken hielt er die Pfeife – so ungestört, eingemummt, umnebelt und ohne ein frostiges Lüftchen das Wichtigste anfing, was ein Quintus machen kann – den Lektionskatalog des flachsenfingischen Gymnasiums, nämlich das Achtel davon. Ich halte den ersten Druck in der Geschichte eines Gelehrten für wichtiger als die ersten Drucke in der Geschichte der Buchdrucker: Fixlein konnt' es gar nicht satt kriegen, das zu spezifizieren, was er künftiges Jahr g. G.
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