Aus der Flocke, die nicht auszuwirren war – denn erstlich konnte Fixleins Alter mit nichts dokumentiert werden, zweitens mußte man, so lange als er lebte, präsumieren, daß er noch nicht zweiunddreißig Jahre alt geworden29-, aus dieser Flocke wären nicht bloß Seide und Strangulier-Schmachtriemen, sondern ganze Prellgarne zu spinnen und zu zwirnen gewesen. Die Klienten überhaupt hätten sich weniger über Prozesse zu beklagen, wenn diese länger dauerten: die Philosophen streiten jahrtausendelang über philosophische Fragen, und es fällt daher auf, daß Advokaten die juristischen in ihren Akten schon in sechzig, achtzig Jahren von der Hand schlagen wollen. Aber das ist nicht die Schuld der Rechtsfreunde: vielmehr wie Lessing von der Wahrheit behauptet, daß nicht das Finden, sondern das Suchen derselben den Menschen beglücke und daß er selber dem Geschenke aller Wahrheiten für die süße Mühe des Forschens entsagen würde, so wird der Rechtsfreund nicht glücklich durch das Finden und Entscheiden, sondern durch das Untersuchen einer juristischen Wahrheit – welches man eben prozessieren und praktizieren nennt –, und er würde sich gern ewig der Wahrheit, wie die Hyperbel der Asymptote, nähern wollen, ohne sie zu erreichen, da er mit Weib und Kind als ein ehrlicher Mann bei dieser ewigen Approximation bestehen könnte. –
Der abgeschickte Bediente hatte außer dem Gold-Legat noch ein Dekret vom Gerichtshalter, worin dem Testamentserben auferleget war, von den Prägekosten, die er zahlen müssen, da er als Quintus und Konrektor unter der Rändelmaschine seiner Vorgesetzten lag, Belege und Scheine beizubringen, worauf er sein Geld wiederbekommen sollte.
Der Konrektor, der sich gegenwärtig an die Reihe der Millionäre anschloß, hielt die kurze Geldrolle wie einen Zepter in der Hand, wie eine herausgezogene Teichdocke des Meeres der Zukunft, das nun ablaufen und ihm alle Besetzfische langgewachsen, trocken und festliegend anbieten muß.
Ich kann nicht alles auf einmal erzählen, sonst hätt' ichs dem Leser, der schon lange darauf passen wird, eher gesagt, daß dem bemittelten Konrektor die zweiunddreißig Patenpfennige mehr als zu sehr die zweiunddreißig Jahre vormalten, an die noch dazu heute der Kantatesonntag, diese Bartholomäusnacht und dieser zweite September seiner Familie, anstieß. Die Mutter, die das Alter ihres Kindes hätte wissen sollen, sagte, es wär' ihr entfallen, sie woll' aber wetten, schon vor einem Jahre wär' er zweiunddreißig gewesen, und der Gerichtshalter hätte nur nicht mit sich reden lassen. »Ich wollte selber schwören« sagte der Kapitalist, »ich weiß, wie dumm mir vorm Jahre am Kantatesonntag war.« Er sah überhaupt den Tod nicht, wie der Dichter, im auftürmenden, auseinandertreibenden Hohlspiegel der Phantasie, sondern wie das Kind, wie der Wilde, wie der Landmann und wie das Weib sah er ihn im planen Oktav-Spiegel vorn an der Schale eines Gesangbuches, und er kam ihm wie der gesunkne, in einem Gitterstuhl der Kirche schlafende Greisen-Kopf vor. –
Und doch dacht' er heute öfter an ihn wie vorm Jahre: denn die Freude schmilzet gern zur Wehmut ein, und das lackierte Glücksrad ist das Schöpfrad, das sich in die Augen ergießet.... Aber der freundliche Genius dieser Erd- oder vielmehr Wasserkugel – denn in der physischen und in der moralischen Welt sind mehr Tränenseen als festes Land – hat den armen Wasserinsekten, die darauf herumschießen, uns nämlich, eine ganz besondere Schweersche Essenz für die Bleikoliken unserer Seele aufgehoben: ich behaupte, der Genius muß die ganze Pathologie der Menschheit mit Fleiß studieret haben; denn er hat für den armen Teufel, welcher keinen Stoiker und keinen Seelensorger bezahlen kann, der für die Fissuren seiner Hirnschale und seiner Brust kostbare Rezepte und Kräuter zusammensetzte, ein herrliches Wundwasser in alle Kellereien fässerweise eingeleget, das der Patient nur nehmen und auf die Knochensplitterung und Schmarren gießen darf- – Fusel nämlich, oder Bier, oder etwas Wein... Beim Himmel! es ist entweder dummer Undank gegen den medizinischen Genius auf der einen Seite oder theologische Verwechslung erlaubter Betrunkenheit mit verbotner Besoffenheit auf der andern, wenn die Menschen nicht Gott danken, daß sie in der Geschwindigkeit etwas haben, was in der Nervenschwindsucht des Lebens Philosophie, Christentum, Judentum, Heidentum und Zeit ersetzt – Getränk, wie gesagt.
Der Konrektor hatte lange vor Sonnenuntergang dem Gemeinboten drei ggr. Botenlohn gegeben und ließ sich – denn er hatte ja ein ganzes Dukaten-Kabinett in der Tasche, das er den ganzen Tag im Finstern mit der Hand durchblätterte – für drei Taler Pontak aus der Stadt abholen. »Ich muß mir heute«, sagt' er, »eine Kantates-Lust machen; ists mein letzter Tag, wohl! nun so ists auch mein lustigster.« Ich wünscht', er hätte eine größere Bestellung gemacht; aber er hatte überall den Zaum der Mäßigkeit zwischen den Zähnen, sogar vor einer gedrohten Vexier-Todesnacht und mitten im Jubel. Es ist die Frage, ob er nicht auf eine Bouteille sich eingeschränket hätte, wenn er nicht mit den zwei andern die Mutter und das Fräulein hätte freihalten wollen. Hätt' er in dem zehnten Säkulum gelebt, wo man den Jüngsten Tag, oder in andern Säkuln, wo man Sündfluten erwartete und wo man deswegen, wie Matrosen im Schiffbruch, alles versoff: er hätte darum nicht einen Kreuzer mehr verzehrt. Seine Freude war, daß er mit dem Legat seinen Hauptkreditor Steinberger abfinden und als ein ehrlicher Mann aus der Welt gehen konnte: gerade Leute, die sich viel aus dem Gelde machen, zahlen ihre Schulden am ehrlichsten.
Der purpurne Pontak kam an zu einer Zeit, da Fixlein die Rötelzeichnungen und roten Titelbuchstaben der Freude, die jener auf die Wangen seines Trinkers und seiner Trinkerinnen ziehen wird, mit dem Abend-Inkarnat der letzten Wolken um die Sonne zusammenhalten konnte....
Wahrlich unter allen Zuschauern dieser Geschichte kann keiner mehr an die arme Thiennette denken als ich; aber ich kann sie doch wahrlich nicht vor der Zeit aus ihrer Anzugsstube auf meinen historischen Schauplatz jagen. Die Arme! der Konrektor kann nicht heißer wünschen als sein Biograph, daß am Tempel der Natur wie am jerusalemitischen eine besondere Pforte – außer der des Todes – offen sei, durch die bloße Bedrängte gehen, damit sie ein Priester aufrichte. Aber Thiennettens Brustschmerzen über alle ihre versunknen Aussichten, über die eingesargte Wohltäterin, über ein ganzes mit dem Leichenflor zugesponnenes Leben hatten ihr bisher in einem Jammer, den der steinichte Rittmeister mehr blutig als gelinder machte, alles verwehrt, Geschäfte ausgenommen, alle Schritte gelähmt, die nicht zu einer Arbeit geschahen, und ihren Augen nichts gegeben, was sie trocknen oder freuen konnte, als ein niederfallendes Augenlid voll Träume und Schlaf.
Aller Kummer erhebt über die bürgerlichen Zeremonialgesetze und macht den Prosaisten zum Psalmisten: bloß im Kummer wagen die Weiber. Thiennette ging nur abends und nur im Garten aus.
Der Konrektor konnt' es kaum abwarten, seiner Hausfreundin zu erscheinen, ihr seinen Dank – und heute seinen Pontak – zu bringen. Drei Pontakkelche und drei Kelchgläser waren außen auf die Fensterküste seiner Hütte gestellet, und sooft er von dem dunkeln Hohlwege zwischen Blüten-Waldungen zurückkam, nippte er aus seinem Glase – und die Mutter trank in der Stube hinein durch das Schubfenster.
Ich habe schon gesagt, sein Lebens-Laboratorium lag im südwestlichen Winkel des Gartens, gegenüber dem ins Dorf hineinreichenden Schloß-Eskurial. Im nordwestlichen Winkel blühte eine Akazien-Laube, gleichsam die Blumenkrone des Gartens. Fixlein trat auch dahin seine Lustfahrt an, um etwan aus der weit gegitterten Laube einen glücklichen Blick in die langen Wiesen nach Thiennetten auszuwerfen. Er fuhr ein wenig zurück vor zwei steinernen Staffeln, die in den Weiher, der auf seinem Gang zur Laube lag, mit frischem Blute betropfet hinuntergingen. Auch an den nahen Binsen hing Blut. Den Menschen schauert vor diesem Öle unseres Lebens-Dochtes, wo er es vergossen findet: es ist ihm die rote Todesunterschrift des Würgengels. Fixlein eilte sorgend in die Laube – und fand hier seine bleichere Wohltäterin an Blütenbüschen angelehnt, ihre Hände waren mit dem Strickzeug in den Schoß gesunken, ihre Augen lagen in den Augenlidern gleichsam im Verbande des Schlummers, so wie ihr linker Arm im wirklichen Verbande der Aderlaß, und mit Wangen, denen die Abendröte so viel gab, als ihnen die bisherigen Verwundungen – die heutige dazugerechnet – genommen hatten. Fixlein fing nach dem ersten Schrecken – nicht über diesen Blumenschlaf, sondern über sein lautes Hereintraben – an, die Schmetterlingsspiralsauglinie seines Auges auseinanderzurollen und sie auf die stillstehenden Blätter dieser Blume hinzulegen. Im Grunde, darf ich behaupten, wars heute das erstemal, daß er sie ansah: er war in die Dreißig gekommen und glaubte noch fort, an einem Fräulein dürf' er nur die Kleider, nicht den Körper bemerken, und er habe ihr nur mit den Ohren, nicht mit den Augen aufzuwarten.
Ich mess' es dem hebenden Flaschenzuge der elektrischen Verstärkungsflasche des Pontaks bei, daß der Konrektor den Mut faßte, umzu- -kehren, um wiederzukommen und die erweckenden Mittel des Hustens, Niesens, Trabens und Rufens nach dem Pudel in stärkern Dosen an der Schläferin zu brauchen. – Sie etwan bei der Hand zu nehmen und unter einer medizinischen Entschuldigung aus dem Schlafe zu ziehen, das wäre ein Wagstück gewesen, dessen der Konrektor, solang' er noch vor Pontak stehen konnte und seinen Verstand hatte, niemals fähig war. Kurz, er weckte sie anders auch auf. Müde, Bedrängte! wie langsam geht dein Auge auf! Das wärmste Heilpflaster der Erde, der Schlaf, hat sich verschoben, und die Nachtluft der Erinnerung wehet wieder deine nackte Wunde an! – Und doch war dein lächelnder Jugendfreund noch das Schönste, auf was dein Auge fallen konnte, wenn es aus dem hängenden Garten des Traums in den niedrigen um dich sank.
Sie wußte selber wenig davon – und der Konrektor gar nichts –, daß sie ihre Blumenblätter unvermerkt nach dem Stande dieses Weltkörpers beuge, nämlich nach Fixlein: sie glich einer italienischen Blume, die einen fein versteckten Neujahrwunsch aufbewahrt, den der Empfänger nicht sogleich herauszuziehen weiß. Jetzt schloß die goldne Pansterkette ihrer Wohltat sie ebensogut an ihn als ihn an sie.
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