– Man könnte auf philosophische Aussichten kommen, wenn man den Ursachen nachginge, warum gerade Getränke – d.h. am Ende reichlichere Sekretion des Nervengeistes – den Menschen zugleich fromm, weich und dichterisch machen. Der Dichter ist, wie sein Musenvater, ein ewiger Jüngling und ist das, was andere Menschen nur einmal sind – nämlich verliebt – oder nur nach dem Pontak – nämlich berauscht-, den ganzen Tag, das ganze Leben hindurch. Fixlein, der kein Dichter am Morgen war, wurde jetzt in der Nacht einer: Wein machte ihn fromm und weich; – die Harmonikaglocken im Menschen, die der höhern Welt nachtönen, müssen, wie die gläsernen, um hier zu gehen, naß erhalten werden.

Jetzt stand er mit ihr wieder vor dem wogenden Teiche, in dem die zweite blaue Halbkugel des Himmels mit wankenden Sternen und flatternden Bäumen zitterte; – über die grünen Hügel liefen die weißen gekrümmten Straßen dunkel hinauf; – auf dem einen Berg sank die Abendröte zusammen, auf dem andern richtete sich der Nebel der Nacht auf – und über alle diese ringenden Dünste des Lebens hing unbeweglich und flammend der tausendarmige Kronleuchter des Sternenhimmels herab, und jeder Arm hielt eine brennende Milchstraße....

Jetzt schlug es 11 Uhr... Bei solchen Szenen streckt sich im Menschen eine unbekannte Hand aus und schreibet mit fremder Sprache an sein Herz jenes fürchterliche Mene, Tekel etc. – »Vielleicht bin ich gestorben um 12 Uhr«, dachte unser Freund, in dessen Seele jetzt der Kantatesonntag mit allen seinen schwarzgefärbten Blutgerüsten aufstieg.

Der ganze künftige Lebens-Kreuzgang seiner Freundin lag gestachelt und bedornet vor ihm, und er sah jede blutige Spur, aus der sie ihren Fuß gezogen – sie, die seinen eignen Weg mit Blumen und Blättern weich gemacht. Da konnt' er sich nicht mehr enthalten, zu zittern mit Körper und Stimme und zu ihr feierlich zu sagen: »Und sollte der Herr heute noch über mich gebieten, so sei Ihnen mein ganzes halbes Vermögen vermacht: denn Ihrer unbeschreiblichen Güte hab' ich es ja zu danken, daß ich schuldenfrei bin wie wenige Schulmänner.«

Thiennette, unbekannt mit unserem Geschlecht, mußte dieses irrig für einen Antrag der Ehe nehmen und drückte dem einzigen lebendigen Menschen, durch dessen Arm sich noch die Freude, die Liebe und die Erde mit ihrer Brust verband, heute zum erstenmal mit den Fingern des wunden Armes bebend seinen, worin sie lagen. Der Konrektor, freudig-erschrocken über den ersten Andruck einer weiblichen Hand, suchte mit seiner herübergebognen rechten ihre linke zu erfassen, und Thiennette hob, da sie seine vergebliche Krümmung merkte, die Finger auf vom Arm und legte den verbundnen in seinen und ihre ganze linke Hand in seine rechte. Zwei Liebende wohnen in der Flispergalerie30, wo der dünneste Hauch sich zu einem Laute beseelet. Der gute Konrektor empfing und verdoppelte den seligen Druck der Liebe, womit die arme unmächtige Seele stammelnd, eingesperrt, lechzend und wahnsinnig eine heiße Sprache sucht, die es nicht gibt; – er wurde übermannt – er hatte nicht den Mut, sie anzublicken, sondern sah geradeaus in die Abendröte und sagte (und hier rannen vor unaussprechlicher Liebe die Tränen heiß über seine Wangen): »Ach ich will Ihnen alles geben, Gut und Blut und alles, was ich habe, mein Herz und meine Hand.« Sie wollte antworten, aber sie tat nach einem Seitenblicke den Schrei des Schreckens: »Ach Gott!« – Er fuhr gegen sie und sah den weiß-mousselinenen Ärmel mit ihrem Blute vollgequollen, weil sie die Aderlaßbinde durch das Hineinrücken des Armes abgeschoben hatte. Blitzschnell riß er sie in die Akazienlaube, wo sie sich setzen konnte. Das nachdringende Blut tropfte schon vom Kleide, und er wurde bleicher als sie, denn jeder Tropfe wurde aus seinem Herzensblut geschöpft. Der blau-weiße postpapierne Arm wurde enthüllt – die Binde wurde aufgewunden er riß aus der Tasche ein Goldstück heraus – deckte es, wie man bei offnen Arterien tut, auf die sprudelnde Quelle und verschloß mit diesem goldnen Gesperre und mit der Binde darüber die Pforte, aus der ihr gequältes Leben drang. –

Als es vorüber war, sah sie auf zu ihm, erblasset, aber ihre Augen waren zwei schimmernde Quellen einer unbeschreiblichen Liebe voll Schmerz und voll Dank. – Die ermattende Verblutung legte ihre Seele in Seufzer auseinander. Thiennette war unaussprechlich weich, und das von so vielen Jahren, von so vielen Pfeilen aufgerissene Herz tauchte sich mit allen seinen Wunden in warme Tränenströme unter, um zuzuheilen, wie sich zersprungene Flöten durch das Liegen im Wasser schließen und darin ihre Töne wiederfinden. – Vor einer solchen magischen Gestalt, vor einer solchen verklärten Liebe zerschmolz ihr mitleidender Freund zwischen den Flammen der Freuden und Schmerzen und versank, mit erstickten Lauten und von Liebe und Wonne niedergezogen, auf das gute blasse himmlische Angesicht, dessen Lippen er blöde drückte, ohne sie zu küssen, bis die allmächtige Liebe alle ihre Gürtel um sie wand und beide enger und enger zusammenzog, und bis die zwei Seelen, in vier Arme verstrickt, wie Tränen ineinanderrannen. – – O da es jetzt zwölf Uhr wie zum Sterben schlug, so mußte ja der Glückliche denken, ihre Lippen sögen seine Seele weg, und alle Fibern und alle Nerven seines Lebens krümmten sich zuckend und fest um das letzte Herz der Erde, um seine letzte Wonne Ja, Glücklicher, du drücktest deine Liebe aus, denn du dachtest, an deiner Liebe zu vergehen....

Er verging aber nicht. Nach zwölf Uhr schwamm ein lebendiger Morgenwind durch die erschütterten Blüten, und der ganze Frühling atmete voll. Der Selige, der sogar einem Freudenmeere Dämme setzte, erinnerte die Verblutete, die nun seine Braut war, an die Gefahr der Nachtkälte, und sich an die Gefahr der längern Nachtkälte des Todes, die nun auf lange Jahre überstanden war. – Unschuldig und selig traten sie aus der mit weißen Akazienblüten und Mondsflittern durchbrochnen Verlobungs-Dämmerung. – Und draußen war ihnen, als wäre eine ganze weite Vergangenheit wie durch einen Erdfall vor ihnen eingesunken: alles war neu, licht und jung. – Der Himmel stand voll blinkender Tautropfen des ewigen Morgens, und die Sterne zitterten freudig auseinander und sanken, in Strahlen aufgelöset, in das Herz der Menschen herunter. – Der Mond hatte mit seiner Lichtquelle den ganzen Garten überdeckt und angezündet und hing oben in einem ungestirnten Blau, als wenn er sich von den nächsten Sternen nährte, und schien ein entrückter kleinerer Frühling zu sein und ein aus Menschenliebe lächelnder Christuskopf. –

Unter diesem Lichte sahen sie sich an zum ersten Male nach dem ersten Worte der Liebe, und der Himmel schimmerte zauberisch in die mild zerflossenen Züge, mit denen die erste Entzückung der Liebe noch auf ihren Angesichtern stand...

Träumet, ihr Lieben, wie ihr wachtet, so glücklich wie im Paradies, so schuldlos wie im Paradies!

 

Sechster Zettelkasten

 

Ämter-Impost – eine der wichtigsten Suppliken

 

Das Herrlichste war sein Erwachen in seiner europäischen Niederlassung im Ritterbette! – Mit dem inflammatorischen kitzelndnagenden Fieber der Liebe in der Brust, mit dem Frohlocken, so daß er nun das Antrittsprogramm der Liebeserklärung glücklich hinter sich hatte, und mit der süßen Auferstehung aus der lebendigen prophetischen Begrabung und mit der Freude, daß er nun in seinen Dreißigern zum ersten Male die Hoffnung zu einem längern Leben – und ist das nicht wenigstens zu einem siebzigjährigen? – hatte als vor zehn Jahren, mit allem diesen gärenden Lebensbalsam, in dem das lebendige Feuerrad seines Herzens sprühend umlief, lag er da und lachte zu seinem blitzenden Porträt im gespiegelten Betthimmel hinauf; aber er vermocht' es nicht lange, er mußte sich bewegen. Einem minder Glücklichen wär' es hinreichend gewesen, den Flächeninhalt des Bettes – wie es manche Pilger mit der Länge ihrer Wallfahrt taten – nicht sowohl durch Schritte als durch Körperlängen wie durch Erddiameter herauszumessen. Aber Fixlein mußte mir nichts, dir nichts aus dem Bette setzen gleichsam mitten ins warme flutende Leben hinein – er hatte nun seine liebe gute Erde wieder beim Flügel und das Konrektorat darauf und obendrein eine Braut. Noch dazu bekannte ihm unten die Mutter, daß er heute nacht wirklich dem Freund Hein unter der Sichel durchgeschlüpfet sei wie biegsames Gras, und daß sie es ihm nur gestern aus Furcht vor seiner Furcht nicht habe sagen wollen. Noch jetzt überliefs ihn kalt – zumal da er heute nüchtern war –, wenn er zu dem nun vier Stunden abgelegenen hohen tarpejischen Felsen hinaufsah, auf dessen Zinne er gestern mit dem Tode beisammen gestanden war.

Das einzige, was ihn ärgerte, war, daß es Montag war und er zurück ins Gymnasium mußte. Eine solche Überfracht von Freuden hatt' er nie auf seiner Straße zur Stadt.