– Eugenius' Phantasie zerschlug mit ihren zu großen Flügeln das zu weiche dünne Körpergewebe; die Lilienglocke des zarten Leibes faßte seine mächtige Seele nicht; der Ort, wo die Seufzer entstehen, seine Brust, war zerstört wie sein Glück; er hatte nichts mehr in der Welt als sein liebendes Herz und nur noch zwei Menschen für dieses Herz.

Diese Menschen wollten im Frühling aus dem Strudel der Menschen gehen, der so hart und kalt an ihre Herzen anschlug: sie ließen sich eine stille Sennenhütte auf einer hohen Alpe, die der Silberkette des Staubbachs gegenüberlag, bereiten. Am ersten schönen Frühlingsmorgen traten sie den langen Weg zur hohen Alpe an. Es gibt eine Heiligkeit, die nur die Leiden geben und läutern; der Strom des Lebens wird schneeweiß, wenn ihn Klippen zersplittern. Es gibt eine Höhe, wo zwischen die erhabenen Gedanken nicht einmal mehr kleine treten, wie man auf einer Alpe die Berggipfel nebeneinander stehen sieht ohne ihre Verknüpfung durch Tiefen. Du hattest jene Heiligkeit, Rosamunde, – und du diese Höhe, Eugenius! – Um den Fuß der Alpe zog ein Morgennebel, in dem drei flatternde Gestalten hingen: die Spiegelbilder der drei Reisenden waren es, und die scheue Rosamunde erschrak und dachte, sie sehe sich selber. Eugenius dachte: was der unsterbliche Geist umhat, ist nur ein dickerer Nebel. Und das Kind griff nach der Wolke und wollte spielen mit seinem kleinen Bruder aus Nebel. Ein einziger unsichtbarer Engel der Zukunft ging mit ihnen durch das Leben und auf den Berg: sie waren so gut und einander so ähnlich, daß sie nur einen Engel brauchten.

Unter dem Steigen schlug der Engel das Buch des Schicksals auf, worin ein Blatt der Abriß eines dreifachen Lebens war – jede Zeile war ein Tag – und als der Engel die heutige Zeile gelesen hatte, so weinte er und schloß das Buch auf ewig.

Die Schwachen bedurften beinahe einen Tag zur Ankunft. Die Erde kroch zurück in die Täler, der Himmel lagerte sich auf die Berge. Die müde, nur blinkende Sonne wurde unserem Eugenius der Spiegel des Mondes; er sagte, als schon die Eisgebürge Flammen über die Erde warfen, zu seiner Geliebten: »Ich bin so müde und doch so wohl. Ist es uns so, wenn wir aus zwei Träumen gehen, aus dem Traum des Lebens und aus dem Traum des Todes, wenn wir einmal in den wolkenlosen Mond als die erste Küste hinter den Orkanen des Lebens treten?«- Rosamunde antwortete: »Noch besser wird uns sein; denn im Monde wohnen ja, wie du mich lehrest, die kleinen Kinder dieser Erde, und ihre Eltern bleiben so lange unter ihnen, bis sie selber so mild und ruhig sind wie die Kinder, und dann ziehen sie weiter.« – »Von Himmel zu Himmel, von Welt zu Welt!« sagte erhoben Eugenius.

Sie stiegen, wie die Sonne sank: wenn sie träger klimmten, so schlugen Berggipfel wie losgebundene auffahrende Zweige verhüllend vor die Sonne. Dann eilten sie in den hinaufrückenden Abendschimmer nach; aber als sie auf der Sennenalpe waren, traten die ewigen Berge vor die Sonne – dann verhüllte die Erde ihre Gräber und Städte anbetend vor dem Himmel, eh' er sie mit allen Sternenaugen ansah, und die Wasserfälle legten ihre Regenbogen ab – und höher breitete die Erde dem Himmel, der sich über sie hereinbog mit ausgestreckten Wolkenarmen, einen Flor aus Goldduft unter und hing ihn von einem Gebürge zum andern – und die Eisberge waren angezündet, damit sie bis in die Mitternacht glühten, und ihnen gegenüber war auf dem Grabe der Sonne ein Scheiterhaufen von Gewölk aus Abend-Glut und Abendasche aufgetürmt. – – Durch den glimmenden Flor aber ließ der gute Himmel seine Abendtränen tief in die Erde hinunterfallen, bis auf das niedrigste Grab, bis auf die kleinste Blume darauf.

O Eugenius, wie groß mußte jetzt deine Seele werden! Das Erdenleben lag entfernt und in der Tiefe vor dir ohne alle die Verzerrungen, die wir daran sehen, weil wir zu nahe davor stehen, so wie die Dekorationen kürzerer Szenen in der Nähe aus Landschaften zu ungestalten Strichen werden. –

Die zwei Liebenden umarmten sich sanft und lange vor der Hütte, und Eugenius sagte: »O stiller, ewiger Himmel, jetzt nimm uns nichts mehr!« – Aber sein blasses Kind stand mit dem geknickten Lilienhaupte vor ihm, er sah die Mutter an, und diese lag mit dem weiten feuchten Auge im Himmel und sagte leise: »Oder nimm uns alle auf einmal!«

Der Engel der Zukunft, den ich den Engel der Ruhe nennen will, weinte lächelnd, und sein Flügel verwehte mit einem Abendlüftchen die Seufzer der Eltern, damit sie einander nicht traurig machten.

Der transparente Abend floß um die rote Alpe wie ein heller See und spülte sie mit den Zirkeln kühler Abendwogen an. Je mehr sich der Abend und die Erde stillte, desto mehr fühlten die zwei Seelen, daß sie am rechten Orte wären: sie hatten keine Träne zu viel, keine zu wenig, und ihr Glück hatte keine andere Vermehrung vonnöten als seine Wiederholung. Eugenius ließ in den reinen Alpenhimmel die ersten Harmonikatöne wie Schwanen fließen. Das müde Kind spielte, in einem Ringe von Blumen eingefasset, an eine Sonnenuhr gelehnt, mit den Blumen, die es um sich auszog, um sie in seinen Zirkel einzuschlichten. Endlich wurde die Mutter aus der harmonischen Entzückung wach – ihr Auge fiel in die großen, weit auf sie gerichteten Augen ihres Kindes –, singend und anlächelnd und mit überschwellender Mutterliebe tritt sie zum kleinen Engel, der kalt war und – gestorben. Denn sein vom Himmel herabgesenktes Leben war im Dunstkreis der Erde auseinandergeflossen wie andere Töne – der Tod hatte den Schmetterling angehaucht, und dieser stieg aus den reißenden Luftströmen in den ewigen ruhenden Äther auf, von den Blumen der Erde zu den Blumen des Paradieses. – –

O flattert immer davon, selige Kinder! Euch wiegt der Engel der Ruhe in der Morgenstunde des Lebens mit Wiegenliedern ein – zwei Arme tragen euch und euern kleinen Sarg, und an einer Blumenkette gleitet euer Leib mit zwei Rosenwangen, mit einer Stirn ohne Gram-Einschnitte und mit weißen Händen in die zweite Wiege herab, und ihr habt die Paradiese nur getauscht. – Aber wir, ach wir brechen zusammen unter den Sturmwinden des Lebens, und unser Herz ist müde, unser Angesicht zerschnitten von irdischem Kummer und irdischer Müh', und unsere Seele klammert sich noch erstarret an den Erdenkloß!

Du wende dein Auge weg von Rosamundens durchstechendem Schrei, starrendem Blick und versteinernden Zügen, du, wenn du eine Mutter bist und diesen Schmerz schon gehabt hast – schaue nicht auf die Mutter, die mit sinnloser Liebe die Leiche hart an sich quetschet, die sie nicht mehr erdrücken kann, sondern auf den Vater, der seine Brust über sein kämpfendes Herz schweigend deckt, ob es gleich der schwarze Kummer mit Otterringen umzog und mit Otterzähnen vollgoß. Ach als er den Schmerz davon endlich weggehoben hatte, war das Herz vergiftet und aufgelöst. Der Mann verbeißet die Wunde und erliegt an der Narbe – das Weib bekämpft den Kummer selten und überlebt ihn doch. – »Bleibe hier« (sagt' er mit überwältigter Stimme) – »ich will es zur Ruhe legen, eh der Mond aufgeht.« Sie sagte nichts, küßte es stumm, zerbröckelte seinen Blumenring, sank an die Sonnenuhr und legte das kalte Angesicht auf den Arm, um das Wegtragen des Kindes nicht zu sehen.

Unterweges erhellete das Morgenrot des Mondes den wankenden Säugling; der Vater sagte: »Brich herauf, Mond, damit ich das Land sehe, wo Er wohnet. – Steig empor, Elysium, damit ich mir darin die Seele der Leiche denke – o Kind, Kind, kennst du mich, hörst du mich – ach hast du droben ein so schönes Angesicht wie deines da, einen so schönen Mund – o du himmlischer Mund, du himmlisches Auge, kein Geist zieht mehr in dich.«- Er bettete dem Kinde statt alles dessen, worauf man uns zum letzten Male legt, Blumen unter; aber sein Herz brach, als er die blassen Lippen, die offnen Augen mit Blumen und mit Erde überdeckte, und ein Strom von Tränen fiel zuerst ins Grab. Als er mit der grünenden Rinde der Erdschollen die kleine Erhebung überbauet hatte: fühlte er, daß er von der Reise und dem Leben müde sei und daß in der dünnen Bergluft seine kranke Brust einfalle; und das Eis des Todes setzte sich in seinem Herzen an. Er blickte sich sehnend nach der verarmten Mutter um – diese hatte schon lange hinter ihm gezittert –, und sie fielen einander schweigend in die Arme, und ihre Augen konnten kaum mehr weinen. –

Endlich quoll hinter einem ausglimmenden Gletscher der verklärte Mond einsam über die zwei stummen Unglücklichen herauf und zeigte ihnen seine weißen unbestürmten Auen und sein Dämmerlicht, womit er den Menschen besänftigt. – »Mutter! blick auf,« (sagte Eugenius) »dort ist dein Sohn – sieh, dort über den Mond gehen die weißen Blütenhaine hin, in denen unser Kind spielen wird.« – Jetzt füllete ein brennendes Feuer verzehrend sein Inneres – sein Auge erblindete am Monde gegen alles, was kein Licht war, und im Lichtstrome walleten erhabene Gestalten vor ihm vorüber, und neue Gedanken, die im Menschen nicht einheimisch sind und die für die Erinnerung zu groß sind, hörte er in seiner Seele, wie im Traume oft Melodien vor den Menschen kommen, der im Wachen keine schaffen kann. – – Der Tod und die Wonne drückten seine schwere Zunge: »Rosamunde, warum sagst du nichts? – Siehst du dein Kind? Ich schaue hinüber über die lange Erde, bis dahin, wo der Mond angeht: da flieget mein Sohn zwischen Engeln.