Leichengift
Robert Ellis
Leichengift
Thriller
Aus dem Amerikanischen
von Karin Dufner
Die Originalausgabe erschien 2009
unter dem Titel »The Lost Witness«
bei St. Martin's Minotaur, New York.
1. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung Januar 2010
Copyright © der Originalausgabe 2009 by Robert Ellis
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Dieses Werk wurde im Auftrage von St. Martin's Press,
L.L.C, durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH,
30827 Garbsen, vermittelt.
Redaktion: Frauke Brodd, write & read Textagentur
BH · Herstellung: Str.
E-Book-Umsetzung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-641-03946-2
www.goldmann-verlag.de
Für Deborah Conway Weber
Auf die Dunkelheit folgt ein neuer Tag.
Auf den Tag folgt wieder Dunkelheit
Und dann noch ein Tag ...
Johnny Cocteau aus den Blue Monday Sessions
1
Mit einem entnervten Aufstöhnen warf sie einen Blick auf den Bildschirm ihres iPhones. Es war Punkt 22:17, genau drei Minuten und einundzwanzig Sekunden, seit sie das letzte Mal nachgesehen hatte. Leider wusste sie nicht mehr, wen sie sonst anrufen sollte. Auf ihrer Schnellwahlliste waren alle Namen abgehakt.
Allmählich wurde ihr die Warterei zu dumm. Es war schon spät und machte ganz den Eindruck, dass sie die heutige Nacht vergessen konnte. Ein totaler Reinfall, während alle ihre Freunde einen draufmachten.
Sie holte tief Luft, atmete aus und betrachtete, wie der Dampf die Windschutzscheibe beschlug. Die kalte Nachtluft ließ sie frieren. Es war Mitte Dezember in Los Angeles. Zwölf Tage vor Weihnachten. Letzte Woche hatte es in Malibu doch tatsächlich geschneit, das hatte sie in den Nachrichten gesehen. Kinder waren auf Pappkartons die Hügel hinuntergerodelt. Schneemänner ließen den Blick über die Santa Monica Bay schweifen. Es war, als stünde die ganze Welt Kopf, aber darüber verlor niemand im Fernsehen auch nur ein Wort.
Sie verscheuchte den Gedanken, nahm den Schlüssel vom Armaturenbrett und schaltete den Motor an. Nachdem sie die Heizungsdüsen überprüft hatte, stellte sie den Fahrersitz ein und versuchte, sich zu entspannen. Als die angelaufene Windschutzscheibe wieder klar wurde, konnte sie das Motel und das Restaurant jenseits des Müllcontainers auf der anderen Seite des Parkplatzes sehen.
Sie betrachtete die Mädchen in ihren durchsichtigen Oberteilen, die in dem Lokal aus und ein gingen, und die Männer, die sie unverhohlen und hungrig begafften, als wären sie wieder kleine Jungen, die auf Pappkartons Schlitten fuhren. Gedämpftes Gelächter wurde vom Wind herangetragen und brach sich am Wagen. Als ihr der Geruch eines Holzfeuers in die Nase stieg, wanderte ihr Blick hinauf zum Dach des Gebäudes. Am Kamin prangte ein Hahn aus Neonröhren. Cock-A-Doodle-Doo, Die besten Hühnchen in L.A., verkündete eine zweite Neonreklame.
Sie musste kichern, brach jedoch schlagartig ab, weil zwei Männer sie anstarrten. Die beiden lehnten an einem Geländer vor dem Restaurant, rauchten und pflückten sich Hähnchenreste aus den Zähnen. Man brauchte kein Genie zu sein, um zu merken, dass sie sie begutachteten, denn schließlich war das hier das Cock-a-doodle-do. Ihre Mägen waren voll, und nun war es Zeit für den Nachtisch. Selbst aus dieser Entfernung erkannte sie, mit welcher Sorte von Kerlen sie es zu tun hatte. Sie duckte sich in den Schatten und betrachtete die Unterschichtgesichter der zwei, die faltigen Stirnen, die tiefen Runzeln um ihre Augen, und die Billigklamotten, die es bei Wal-Mart in Gang sieben gab. Gerne hätte sie sie angeschnauzt, sie sollten aufhören, sie anzuglotzen. Diese Typen sollten kapieren, dass sie es nicht mit Fernfahrern und anderen Verlierern trieb, sondern nur mit Ärzten, Anwälten, Filmschauspielern und Agenten. Aber sie schwieg.
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