Der Mörder war einer seiner Kollegen. Jemand, der Medizin studiert und den hippokratischen Eid abgelegt hatte.
»Ein ausgebildeter Chirurg also«, wiederholte Madina.
Wortlos beobachtete Lena, wie der Pathologe Jane Does Leiche wieder auseinandernahm, als hätten sie kein Opfer, sondern eine Schaufensterpuppe vor sich.
»Es ist nicht einfach, eine Leiche zu zerstückeln, Lena. Es haben sich schon viele Leute daran versucht. Mehr, als Sie denken. Aber die meisten haben keine Ahnung und hinterlassen Beweise. Hackspuren. Sägespuren. Schartige Ränder von einem Messer. Risswunden, die man auf einen Kilometer Entfernung erkennt.«
Lena erinnerte sich an ihren ersten Eindruck von der Leiche beim Betreten des Autopsiesaals. Jane Does Arme und Beine hatten sich so nahtlos aneinandergefügt, dass sie schon geglaubt hatte, der Pathologe hätte die falsche Leiche erwischt.
Madina wies auf den Schnitt oberhalb des linken Handgelenks der Leiche und dann auf den Ellenbogen. »Dieser Schnitt stammt von einem Menschen, dem das Aussehen des fertigen Ergebnisses wichtig war. Lediglich ein Chirurg hätte Interesse daran, denn nur er hätte die möglichen Narben im Blick.«
»Doch er hat sie trotzdem in den Müll geworfen, damit niemand sie findet. In diesem Fall hätte sie kein Mensch zu Gesicht bekommen.«
»Das spielt für ihn offenbar keine Rolle. Jeder Schnitt wurde genau an der Stelle gesetzt, wo er am wenigsten Mühe erfordert. Der Mann ist ein Profi. Nichts weist darauf hin, dass er irgendwann gezögert hätte. Sehen Sie, wie gerade und sauber die Einschnitte sind? Es handelt sich um die Arbeit eines fähigen Chirurgen, Lena.«
»Also soll das heißen, dass der Fundort nicht von Bedeutung ist, weil er während des Zerstückeins der Leiche gar nicht daran gedacht hat?«
»Genau. Zwischen den beiden Aktionen besteht kein Zusammenhang. Als er ihre Hand vom Handgelenk getrennt hat, hat er sich nur für den Einschnitt und die mögliche Narbe interessiert. Alles sollte sauber und präzise sein. Das ist typisch für einen Chirurgen. Es liegt ihm im Blut und geschieht rein instinktiv. Anders könnte er gar nicht vorgehen.«
»Und zwar, weil er es in der Ausbildung so gelernt hat«, stellte Lena fest. »Es ist eine Frage der Berufserfahrung. Also hat er schon früher Amputationen durchgeführt.«
»So viele, dass er meiner Ansicht nach einige Zeit bei einem Auslandseinsatz verbracht haben muss. Irak oder Afghanistan. Um so gut zu werden, bedarf es einer Menge Übung. Und davon hatte dieser Kerl mehr als genug.«
Lena trat einen Schritt näher an das Opfer heran und betrachtete es. Die Beweislast war erdrückend. Jane Doe war ausgeblutet und zerstückelt worden, und zwar von jemandem, der sich in diesem Metier auskannte und so etwas, aus welchen Gründen auch immer, schon öfter getan hatte.
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