Er war nicht mehr die Summe seiner Einzelteile, kein hübsches Mädchen, das noch das ganze Leben vor sich hatte. Lena musterte die Tote und dachte an den Mörder.

Er hatte sein Opfer auf die schlimmste Weise entwürdigt und keine Gnade gezeigt.

»Was ist mit dem Todeszeitpunkt?«, fragte sie.

Madina zuckte nur mit den Achseln und notierte sich etwas auf seinem Klemmbrett. »Gestern«, antwortete er. »Im Moment kann ich ihn nicht näher bestimmen. Aber wir haben ein Problem, Lena.«

»So kann man es natürlich auch ausdrücken.«

»Nein, ich rede hier von einem wirklichen Problem. Es handelt sich nicht um ein Sexualverbrechen. Und der Täter ist eindeutig kein heruntergekommener Obdachloser.«

»Was soll das heißen?«

Anstelle einer Antwort begann Madina, den Körper wieder zusammenzusetzen, bis die Schnittstellen nahezu unsichtbar waren und Jane Doe nahezu unversehrt erschien.

»Lassen Sie uns mit der Todesursache anfangen«, meinte er. »Hier am Hals hat sie eine Schnittwunde. Sie wurde nicht zufällig gesetzt, sondern genau an der richtigen Stelle.«

Lena beugte sich vor. »An der richtigen Stelle wofür?«

»Er hat ihr nicht die Halsvene durchtrennt, sondern die Halsschlagader. Und er wusste genau, was er tat.«

»Was hat das zu bedeuten?«

»Das müssen Sie mir verraten.«

»Arterien leiten das Blut vom Herzen weg«, erwiderte sie. »Venen führen es zurück.«

»Genau. Der Mann, den Sie suchen, hat sich die Arteria carotis, die Halsschlagader ausgesucht, weil er dem Herzen das Blut entziehen wollte. Sein Plan war, sie auszubluten. Sehen Sie die Fesselungsmale an ihren Beinen und Knöcheln. Er hat sie kopfüber aufgehängt und sie am Leben erhalten, Lena, damit ihr Herz weiterschlug, bis sie verblutet war. Und deshalb finde ich, dass wir es mit einem wirklichen Problem zu tun haben.«

Lena wandte sich zum Autopsietisch um und betrachtete die in überdimensionierten Plastikbehältern verstauten Organe von Jane Doe. Bei allen anderen Autopsien, denen sie beigewohnt hatte, waren die inneren Organe kräftig gefärbt gewesen, während die von Jane Doe einen blassen Braunton aufwiesen. Nicht die Zeit hatte diese Farbveränderung hervorgerufen, sondern der Blutverlust.

»Fällt Ihnen etwas auf?«, meinte Madina in drängendem Tonfall. »Schauen Sie sich nur ihre Leber an. Eigentlich sollte sie dunkelviolett sein.«

Lena warf einen Blick auf den Behälter und drehte sich dann wieder zu der Leiche um. Der Mörder hatte die Frau bei lebendigem Leibe verbluten lassen. So sehr sie sich auch bemühte, sich den Moment nicht allzu deutlich auszumalen, wurde sie von Grauen ergriffen. Hier hatte sie es mit einer ganz eigenen Art von Wahnsinn zu tun. Einer neuen Form, wie sie ihr bis jetzt noch nicht begegnet war.

»Was können Sie mir über den Täter erzählen?«, fragte sie Madina.

»Eine ganze Menge. Eigentlich fast alles, was Sie über ihn wissen wollen, abgesehen von Namen und Adresse.«

Sie blickte ihn unverwandt an.

»Dann gehen Sie also eindeutig von einem männlichen Täter aus.«

»Daran besteht kein Zweifel«, erwiderte er und wies auf die Fesselungsmale. »Außerdem muss er recht stark sein. Sonst hätte er sie nicht an den Knöcheln hochheben können.«

»Was sonst noch?«

Madina nahm die Gesichtsmaske ab. »Er ist Chirurg.«

Eine Weile herrschte bedrücktes und unheilschwangeres Schweigen. Als Medina wieder das Wort ergriff, schwangen Verbitterung, Grauen und Enttäuschung in seinem Tonfall mit.