Der Wind hatte aufgefrischt und trocknete die Stadt, nachdem es zehn Tage pausenlos wie aus Kannen geregnet hatte. Obwohl im ganzen Tal, von der Innenstadt bis zum Meer, hell die Sonne schien, würden die Temperaturen vermutlich nicht die zehn Grad übersteigen. Dennoch war die Aussicht vom Gipfel des Hügels an diesem Nachmittag atemberaubend. Die ganze Stadt wirkte blitzblank und schimmerte im dunstigen Licht. Lena hatte den Pool zwar nicht geheizt, doch Dampf stieg aus dem Wasser auf und trieb wie ein farbiger Nebel der Sonne entgegen. Sie konnte den Blick nicht davon abwenden. Der Friede. Die trügerische Ruhe in einer Stadt, die so viele Menschen ihr Zuhause nennen wollten.

Sie fragte sich, wie lange diese Illusion sich wohl halten würde. Allein in diesem Jahr waren in Los Angeles vierhundertachtundsiebzig Morde verübt worden. Da es bis Silvester nur noch achtzehn Tage waren, stand zu befürchten, dass sie die Fünfhunderterhürde noch reißen würden. Lena hielt das zumindest für wahrscheinlich. Innerhalb der letzten elf Monate war die Anzahl der Gefängnisinsassen auf einhundertdreiundsiebzigtausend gestiegen, was in etwa der Bevölkerungszahl der amerikanischen Stadt entsprach, die im Hinblick auf ihre Größe an vierundzwanzigster Stelle im Land stand. Die Strafanstalten, obwohl eine Stadt ohne Namen, eigene Footballmannschaft oder Festtagsparade, bildeten eine Gemeinde, in der mehr Menschen lebten als in Pasadena.

Ob diese trügerische Ruhe wohl irgendwann Wirklichkeit werden würde?

Die Heizung sprang an, und der Wind, der von draußen hereinwehte, pustete die Zeitung vom Tisch. Lena kehrte ins Haus zurück und schloss die Schiebetür. Beim Aufheben der Zeitung bemerkte sie auf Seite drei des Kalifornienteils ein Foto, das ihr zuvor nicht aufgefallen war. Eine Villa in Beverly Hills war unter einem halben Meter Schnee begraben. Da sie sich an die Wetterkapriolen der letzten Woche in Malibu erinnerte, las sie den Artikel weiter, bis ihr klarwurde, dass der Schnee nicht Ergebnis eines Unwetters, sondern von einer Firma für Spezialeffekte in Burbank künstlich hergestellt worden war. Wieder eines der vielen Trugbilder dieser Stadt, eigens produziert und über Haus und Garten verteilt, weil irgendein reicher Mann seinen Kindern weiße Weihnachten spendieren wollte. Anstatt die Ferien in den Bergen zu verbringen, plante er, sein Haus jeden Tag für zehntausend Dollar pro Lieferung einschneien zu lassen. Lena rechnete nach. Weiße Weihnachten in Beverly Hills waren offenbar für kümmerliche einhundertzwanzigtausend Dollar zu haben. L.A. war als gewaltige Täuschungsmaschinerie bekannt, gegen den hier vorherrschenden Wahnsinn war anscheinend kein Kraut gewachsen.

Das Telefon läutete in seiner Ladestation auf dem Küchentresen. Lena blätterte die Zeitung um, stand auf und warf einen Blick auf die Anzeige, bevor sie das Gespräch annahm. Es war ihr Vorgesetzter Lieutenant Frank Barrera vom Dezernat für Raub und Tötungsdelikte, der sie an ihrem freien Tag anrief.

»Gute und schlechte Nachrichten«, begann er. »Bei Ihnen alles in Ordnung, Lena?«

»Bestens. Was gibt es denn? Ich kann Sie kaum verstehen.«

»Moment. Ich mache rasch die Tür zu.«

Barrera flüsterte. Lenas Blick fiel auf die Kaffeetasse auf ihrem Tisch. Nachdenklich nahm sie noch einen Schluck.