Er schien sehr müde. Frauen aus der Vorstadt, die zum Fluß hin liegt, hatten gesehen, wie er am Ende der Promenade, unter den Bäumen des Boulevard Gassendi, stehenblieb und aus einem Brunnen trank. Der Durst mußte ihn arg quälen, denn Kinder hatten beobachtet, daß er zweihundert Schritte später, am Marktplatz, wieder Wasser aus dem Brunnen schöpfte.

An der Ecke der Rue Poichevert angelangt, bog er links ab und wandte sich dem Stadthaus zu. Er trat ein und kam erst nach einer Viertelstunde wieder heraus. Ein Gendarm saß neben dem Eingang auf einer Steinbank, auf die General Drouot am 4. März gestiegen war, um der erregten Menge die Proklamation aus dem Golfe von Juan vorzulesen. Der Wanderer nahm die Mütze ab und grüßte den Gendarmen scheu. Der antwortete nicht, folgte ihm mit einem forschenden Blick und ging dann in das Haus.

Es gab damals in Digne eine hübsche Herberge, La Croix-de-Colbas, deren Wirt, ein gewisser Jacquin Labarre, in der Stadt wegen seiner Verwandtschaft mit einem anderen Labarre hoch im Ansehen stand, weil jener andere in Grenoble die Herberge zu den Trois Dauphins unterhielt und bei der Garde gedient hatte. Zur Zeit der Landung Napoléons im Golfe von Juan hatte man sich in jener Gegend viel mit der Herberge der Trois Dauphins beschäftigt. Es wurde erzählt, General Bertrand habe, als Fuhrmann verkleidet, im Januar dort zu den Stammgästen gehört, unter den altgedienten Soldaten Kreuze der Ehrenlegion und unter den Bürgern Napoléondors verteilt. Tatsache ist, daß der Kaiser bei seinem Einzuge in Grenoble nicht in der Präfektur absteigen wollte, sondern dem Bürgermeister antwortete: »Ich kenne hier einen braven Mann, bei dem kehre ich ein.« Und er war in den Trois Dauphins abgestiegen. Dieser Ruhm jenes Labarre aus Grenoble strahlte fünfundzwanzig Meilen weit, und es fiel auch etwas davon auf die Croix-de-Colbas ab. Man sagte von ihrem Wirt in der Stadt: er ist der Vetter jenes Labarre in Grenoble.

Zu dieser Herberge, der besten am Ort, lenkte der Wanderer seine Schritte. Er trat in die Küche ein, zu der man unmittelbar von der Straße aus gelangte. Alle Herde waren angeheizt, und auch im Kamin brannte ein lustiges Feuer. Der Wirt, der auch sein eigener Koch war, stand über die Kessel gebeugt und überwachte die Zubereitung eines üppigen Abendbrots, das für eine Gesellschaft vergnügter Fuhrleute bestimmt war, die im Nebenzimmer warteten. Wer gereist ist, weiß, daß die Rollkutscher viel von gutem Essen halten. Am Bratspieß stak ein fettes Kaninchen, von Rebhühnern flankiert, und in den Kesseln brieten zwei mächtige Karpfen aus dem See von Lauzet und eine Forelle aus dem See von Alloz.

Als der Wirt die Tür sich öffnen und einen neuen Gast eintreten hörte, fragte er, ohne von seinen Kesseln aufzublicken:

»Was wünscht der Herr?«

»Ich möchte hier essen und schlafen.«

»Nichts leichter als das«, er wandte den Kopf, maß den Fremdling mit einem flüchtigen Blick und ergänzte: »vorausgesetzt, daß Sie bezahlen.«

Der Mann zog eine pralle Lederbörse aus der Tasche seiner Joppe und antwortete:

»Ich habe Geld.«

»In diesem Falle – ganz zu Ihren Diensten.«

Der Mann steckte die Börse wieder in die Tasche, entledigte sich seines Tornisters, stellte ihn neben der Tür zu Boden, behielt seinen Stock in der Hand und setzte sich am Kamin auf einen Schemel. Oktoberabende sind in Digne kalt, denn es liegt im Gebirge.

Im Hin-und Hergehen beobachtete der Wirt den Reisenden.

»Wird bald gegessen?« fragte der Mann.

»Gleich.«

Während der Neuankömmling sich an dem Kamin wärmte, an den er sich mit dem Rücken gelehnt hatte, zog der wackere Herbergsvater Jacquin Labarre einen Bleistift aus der Tasche und riß von einem alten Zeitungsblatt, das auf der Fensterbank lag, eine Ecke ab. Auf diesen Fetzen Papier schrieb er ein paar Zeilen, faltete sie, ohne zu siegeln, und steckte sie einem Knaben zu, der als Küchenjunge und Hausbursche diente. Der Wirt flüsterte ihm ein Wort zu, und der Junge lief eilig in Richtung Stadthaus fort.

Der Gast hatte nichts davon bemerkt.

»Wird bald gegessen?« fragte er von neuem.

»Gleich«, sagte der Wirt.

Der Knabe kehrte zurück. Er brachte ein Stück Papier, das der Wirt hastig entfaltete wie jemand, der eine Antwort erwartet. Er schien aufmerksam zu lesen, schüttelte dann den Kopf und blieb einen Augenblick lang nachdenklich. Endlich trat er zu dem Reisenden, der vor sich hinzubrüten schien.

»Herr, ich kann Sie nicht aufnehmen.«

Der Mann richtete sich auf seinem Schemel auf.

»Fürchten Sie, daß ich nicht bezahle? Wollen Sie, daß ich Geld erlege? Ich habe doch Geld, wie ich Ihnen bereits sagte.«

»Es ist nicht darum.«

»Warum dann?«

»Sie haben Geld …«

»Allerdings.«

»Aber ich habe kein Zimmer frei«, erklärte der Wirt.

»Gut, so weisen Sie mir einen Platz im Stall an«, erwiderte der Mann ruhig.

»Das kann ich nicht.«

»Warum?«

»Die Pferde nehmen den ganzen Platz ein.«

»Gut, also einen Winkel im Speicher. Eine Schütte Stroh. Wir werden nach dem Essen darüber sprechen.«

»Ich kann Ihnen nichts zu essen vorsetzen.«

Diese Erklärung, in ruhigem, aber festem Ton gegeben, machte den Fremden stutzig. Er erhob sich.

»Ha, ich sterbe Hungers. Seit Sonnenaufgang bin ich unterwegs. Zwölf Meilen bin ich gelaufen. Ich zahle.