Kein zukunftsfreudiger Abbé wünschte sich an diesen greisen Einzelgänger zu klammern. Kein bescheidenes Pflänzlein wollte im Schatten dieses Baumes grünen. Seine Canonici und Großvikare waren gute alte Männer, Leute aus dem Volk wie er, denen die Diözese kein Sprungbrett zum Kardinalsamt war, die ihrem Bischof glichen und sich von ihm nur in dem einzigen unterschieden, daß sie bereits am Ende ihrer Karriere angelangt waren, während er doch ein Ziel erreicht hatte. Man wußte, daß Monsignore Bienvenu niemanden hochbrachte, und die jungen Leute, die aus seinem Seminar hervorgingen, ließen sich bald den Erzbischöfen von Aix oder Auch empfehlen und machten sich aus dem Staube. Denn schließlich, um es zusammenzufassen, man will vorwärtsgestoßen werden. Ein Heiliger, der die Selbstverleugnung übertreibt, ist ein gefährlicher Nachbar; man könnte sich leicht mit unheilbarer Armut anstecken, oder ein so steifes Rückgrat bekommen, daß es ein für allemal aus wäre mit dem Avancement; Tugenden, die man besser meidet. Darum wurde Monsignore Bienvenu allein gelassen. Wir leben in einer dumpfen Gesellschaft. Vorwärtskommen, das ist die höchste Weisheit der Korruption.
Nichts ist scheußlicher als dieses Ideal des Erfolges. Seine trügerische Ähnlichkeit mit dem Verdienst täuscht die Menschen. Für die Menge bedeutet Erfolg soviel wie geistige Überlegenheit. In unserer Zeit ist eine fast offizielle Philosophie in seinen Dienst getreten und ist noch stolz darauf, seine Livree zu tragen. Wer das große Los gewinnt, gilt für einen klugen Mann. Wer triumphiert, ist ehrenwert. Von fünf oder sechs glänzenden Ausnahmen abgesehen, hat unser Jahrhundert, kurzsichtig, wie es ist, nur falsche Helden bewundert. Wenn ein Notar Abgeordneter wird, ein falscher Corneille einen Tiridates schreibt, ein Eunuch sich einen Harem zulegt, ein Säbelraßler zufällig eine Entscheidungsschlacht schlägt, ein Apotheker für eine Armee Pappsohlen liefert und damit vierhunderttausend Livres Beute stiehlt, ein Hausierer sich auf den Wucher legt und damit sieben oder acht Millionen zusammenrafft, ein Intendant bei seinem Amtsaustritt so reich ist, daß er Finanzminister werden könnte, dann gilt er heute für ein Genie, und man verwechselt, was leicht vergoldet ist, mit dem massiven Gold.
Zweites Buch
Der Fall
Abend nach einem Tagmarsch
An einem der ersten Tage des Oktobers 1815 betrat ein Mann, der zu Fuß reiste, etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang die kleine Stadt Digne. Die wenigen Leute, die sich um diese Zeit am Fenster oder an der Türschwelle zeigten, betrachteten den Fremdling mit einer gewissen Unruhe. Es war schwer, sich einen herabgekommeneren Menschen als diesen vorzustellen. Er war von mittlerem Wuchse, stämmig und bei Kräften. Sein Alter hätte man mit sechsundvierzig oder achtundvierzig Jahren angeben können. Seinen Kopf bedeckte eine Mütze, deren Lederschirm sein sonnenverbranntes, schweißbedecktes Gesicht zum Teil verbarg. Sein Hemd aus grobem, gelbem Leinen, das am Halse durch einen kleinen silbernen Anker zusammengehalten wurde, ließ eine behaarte Brust sehen. Sein Halstuch hatte er wie einen Strick zusammengedreht, seine Hosen waren aus blauem Zwillich, zerschlissen und schäbig, das eine Bein am Knie blank gescheuert, das andere durchlöchert. Er trug eine zerrissene, graue Joppe, deren Ärmel am Ellbogen einen Flicken zeigten, einen vollen, gutverschnürten Tornister, einen wuchtigen Knotenstock, genagelte Schuhe, aber keine Strümpfe. Das Haar trug er kurzgeschoren, der Bart war lang.
Niemand kannte ihn. Offenbar war er nur auf dem Durchmarsch. Woher er kam? Aus dem Süden. Vielleicht vom Meere. Denn er betrat Digne durch dasselbe Tor, durch das Napoléon sieben Monate früher auf dem Wege von Cannes nach Paris eingezogen war. Sichtlich war er den ganzen Tag unterwegs gewesen.
1 comment