Das ist der Pfarrer, dem die andern Pfarrer gehorchen müssen. Sie müssen mich entschuldigen, ich sage das nicht geschickt, aber unsereiner versteht es nicht besser. Sie werden mich schon verstehen. Er hat im Bagno die Messe gelesen, und auf dem Kopfe hatte er einen spitzen Hut aus Gold. Es war am hellichten Mittag, alles an ihm glitzerte. Wir standen ringsum in Reihen, vor uns hatte man Kanonen aufgestellt, mit brennender Lunte. Wir sahen nicht sehr viel; er hat auch gepredigt, aber er stand weitab, man hörte nicht viel. Das ist ein Bischof, verstehen Sie.«
Während er sprach, war der Bischof aufgestanden und hatte die Türe geschlossen, die offengeblieben war. Frau Magloire trat ein. Sie brachte ein Gedeck und legte es auf den Tisch.
»Frau Magloire«, sagte der Bischof, »decken Sie möglichst nahe am Kamin.« Und zu seinem Gast gewendet: »Der Nachtwind ist hart in den Alpen, Sie frieren wohl, Herr Valjean?«
Sooft er Herr sagte, leuchtete das Gesicht des Fremden auf. Der Gedemütigte dürstet nach Achtung.
»Diese Lampe leuchtet sehr schlecht«, sagte der Bischof.
Frau Magloire begriff, ging in das Schlafzimmer des Bischofs und holte die beiden silbernen Leuchter vom Kamin; sie stellte sie brennend auf den Tisch.
»Herr Pfarrer«, sagte der Fremde. »Sie sind gut, Sie nehmen mich auf, Sie stecken sogar für mich Ihre Kerzen an. Und ich habe Ihnen doch gar nicht verschwiegen, wo ich hergekommen und daß ich ein Unglücklicher bin.«
»Sie brauchten mir das nicht zu sagen«, erwiderte der Bischof und berührte sanft die Hand des Fremden. »Dies ist nicht mein Haus, sondern das Haus Christi. Wer hier eintritt, wird nicht um seinen Namen gefragt, er braucht nur zu sagen, daß er Not leidet. Sie leiden, Sie haben Hunger und Durst, also seien Sie uns willkommen. Danken Sie mir nicht, sagen Sie nicht, daß ich Sie in meinem Hause aufnehme. Hier ist niemand zu Hause außer dem, der eine Zuflucht sucht. Sie sind hier mehr zu Hause als ich. Was hier ist, gehört Ihnen. Wozu brauche ich Ihren Namen zu wissen? … Sie haben wohl viel Arges durchgemacht?«
»Oh, die rote Jacke, eine Kanonenkugel am Bein, ein Brett als Nachtlager, Hitze, Frost, Arbeit, Prügel, um nichts und wieder nichts die doppelte Kette, für ein Wort die Einzelzelle. Und sogar im Krankenbett noch die Kette. Die Hunde … die Hunde sind besser dran! Neunzehn Jahre! Ich bin jetzt sechsundvierzig alt. Und jetzt … der gelbe Paß. Das ist das Ende.«
»Sie kommen von einem Ort des Jammers«, erwiderte der Bischof. »Aber hören Sie, im Himmel ist mehr Freude über die Tränen eines reuigen Sünders als über das weiße Gewand von hundert Gerechten. Wenn Sie von jenem Ort des Leidens heimkehren mit Haß und Groll wider die Menschen, so sind Sie wohl zu beklagen; sind Sie aber sanft, friedlich und wohlwollend, dann taugen Sie mehr als jeder von uns.«
Inzwischen hatte Frau Magloire das Abendbrot aufgetragen: Brotsuppe, ein Stück Speck, Hammelfleisch, Feigen, frischen Käse und ein Roggenbrot. Sie hatte noch eine Flasche von des Bischofs altem Mauves beigesteuert.
Sofort spiegelte das Gesicht des Bischofs jene Heiterkeit, die gastfreundlichen Menschen eignet.
»Zu Tisch!« rief er lebhaft, und er ließ den Fremden an seiner rechten Seite Platz nehmen, wie er es zu tun pflegte, wenn er einen Gast bei sich hatte. Fräulein Baptistine nahm ruhig und unbefangen zu seiner Linken ihren Platz ein. Der Bischof sprach das Tischgebet und teilte, wie es seine Gewohnheit war, selbst die Suppe aus.
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