Der Fremde aß gierig.

Plötzlich sagte der Bischof: »Mir scheint, es fehlt etwas auf dem Tisch!«

Frau Magloire hatte in der Tat nur die drei nötigen Gedecke aufgelegt. Es war aber der Brauch des Hauses, daß alle sechs Silberbestecke aufgelegt wurden, wenn ein Gast bewirtet wurde. Harmlose Eitelkeit. Liebenswürdiger, kindlicher Luxus in diesem ernsten, ruhigen Hause, in dem die Armut für Anständigkeit galt.

Frau Magloire begriff, ging wortlos hinaus, und einen Augenblick später funkelten die drei Bestecke auf dem Tischtuch.

Einzelheiten über die Käsereien in Pontarlier

Um unsere Leser wissen zu lassen, was an jener Tafel vorging, zitieren wir aus einem Brief Fräulein Baptistines an ihre Jugendfreundin, die Vicomtesse de Bois-Chevron.

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Der Mann achtete auf niemand. Er aß gierig wie einer, der am Verhungern ist. Nach dem Essen sagte er endlich:

»Herr Pfarrer, das ist alles viel zu gut für mich, aber offen gestanden, die Rollkutscher, die mich nicht an ihrem Tisch haben wollten, lebten besser als Sie.«

Unter uns gesagt, diese Bemerkung ärgerte mich. Mein Bruder antwortete:

»Sie haben auch mehr Plage als ich.«

»Nein, das nicht«, sagte der Mann, »aber mehr Geld. Sie sind arm, das sehe ich wohl. Vielleicht sind Sie nicht einmal Pfarrer. Sind Sie wenigstens Pfarrer? Wahrhaftig, wenn der liebe Gott gerecht wäre, müßten Sie Pfarrer sein.«

»Der liebe Gott ist mehr als gerecht«, sagte mein Bruder. Dann nach einem kurzen Schweigen fügte er hinzu: »Herr Valjean, Sie gehen nach Pontarlier?«

»Mit vorgeschriebener Route.«

So war, wenn ich mich recht erinnere, der Ausdruck.

»Morgen, bei Tagesanbruch, muß ich wieder unterwegs sein«, fuhr er fort. »Es ist ein harter Marsch. Wenn die Nächte auch kalt sind, ist es bei Tag doch recht heiß.«

»Nun«, meinte mein Bruder, »Sie kommen da in eine gute Gegend. Meine Familie ist durch die Revolution zugrunde gerichtet worden, und ich bin zunächst in die Franche-Comté geflohen; dort lebte ich einige Zeit lang von meiner Hände Arbeit. Ich war gutwillig, und so fand ich Beschäftigung. Man kann dort frei wählen, in dieser Gegend. Es gibt Papiermühlen, Gerbereien, Branntweinbrennereien, Ölpressen, große Uhrenfabriken, Stahlwerke, Kupferwerke, mindestens zwanzig Eisenhütten, deren vier recht umfangreich sind, und zwar die in Lods, Châtillon, Audincourt und Beur …«

Ich glaube mich nicht zu täuschen, das waren wohl die Namen, die mein Bruder nannte; dann unterbrach er sich und richtete das Wort an mich.

»Liebe Schwester, haben wir nicht dort Verwandte?«

»Doch«, antwortete ich, »wir hatten wenigstens welche, unter andern Herrn de Lucenet, der bei der Torwache zu Pontarlier Hauptmann war unter dem alten Regime.«

»Ja«, meinte mein Bruder, »aber Anno 93 war es nichts mit den Verwandten, da mußte sich jeder auf seine eigenen Hände verlassen. Ich habe gearbeitet. Übrigens gibt es in der Gegend von Pontarlier, Herr Valjean, eine recht patriarchalische und anheimelnde Industrie – die Käsereien …«

Nun setzte mein Bruder, während er den Fremden wieder zuzugreifen nötigte, auseinander, wie diese Käsereien in Pontarlier eingerichtet sind. Man unterscheidet ihrer zwei Arten, die großen, die reichen Leuten gehören und über vierzig bis fünfzig Kühe verfügen, so daß sie sieben-bis achttausend Käse im Jahr liefern können; und dann die Genossenschaftskäsereien, die den Armen gehören; die Bauern des Mittelgebirges tun sich in diesen Betrieben zusammen, liefern den Milchertrag ihrer Kühe gemeinsam ein und teilen sich in den Gewinn. Sie nehmen auf gemeinsame Rechnung einen Käser in Dienst, dessen Aufgabe es ist, dreimal täglich von den Mitgliedern der Genossenschaft Milch abzuholen und die gelieferten Mengen auf einem doppelten Kerbholz zu vermerken. Gegen Ende April beginnt die Arbeit der Käsereien; Mitte Juni führen die Käser ihre Kühe in die Berge.

Der Fremde wurde während des Essens zusehends lebhafter. Mein Bruder hieß ihn von dem guten Mauves trinken, den er selber niemals trinkt, denn er ist zu teuer. Er sprach mit dieser verhaltenen Heiterkeit, die Sie ja an ihm kennen, wobei er gelegentlich ein freundliches Wort für mich einflocht. Immer wieder kam er auf die Annehmlichkeiten des Käserberufs zurück, als ob er den Mann darauf hinlenken wollte, daß er vielleicht auf diesem Wege ein Auskommen finden würde – doch wollte er ihn offenbar nicht unmittelbar darauf stoßen.

Als wir bei den Feigen waren, wurde an der Tür geklopft. Es war Mutter Gerbaut, die ihren Jungen auf dem Arm trug. Mein Bruder küßte den Kleinen auf die Stirn und lieh sich von mir fünfzehn Sous, die ich gerade bei mir hatte, um sie der armen Frau zu geben. Unser Gast achtete nicht darauf, was vorging. Er sprach nicht und sah sehr müde ans. Als die arme alte Frau Gerbaut fortgegangen war, sprach mein Bruder das Dankgebet, dann wandte er sich zu dem Gast und sagte:

»Sie bedürfen gewiß sehr des Bettes.«

Frau Magloire hatte rasch abgedeckt.