Ich begriff, daß wir uns zurückziehen sollten, um den Fremden schlafen zu lassen. So stiegen wir in unsere Schlafgemächer hinauf. Doch sandte ich Frau Magloire kurz nachher noch einmal hinunter, damit sie ihm das Gemsenfell aus meinem Zimmer aufs Bett legen möchte. Die Nächte sind jetzt eisig, und solch ein Fell hält warm. Schade, daß es schon so alt ist, alle Haare gehen ihm aus.

Mein Bruder hat es seinerzeit gekauft, als er in Deutschland war, in Tottlingen, in der Nähe der Donauquellen.

Frau Magloire kam gleich wieder heraus, wir beteten zusammen, und dann gingen wir, ohne eine Wort zu sprechen, jede in unsere Schlafkammer.

Ruhe

Nachdem Monsignore Bienvenu seiner Schwester gute Nacht gesagt hatte, nahm er einen der beiden Silberleuchter vom Tisch, gab den andern seinem Gast und sagte:

»Ich werde Sie jetzt in Ihr Zimmer führen, mein Herr.«

Der Mann folgte ihm.

Das Haus war so eingerichtet, daß man, um in das Betzimmer und in den Alkoven zu gelangen, das Schlafzimmer des Bischofs durchqueren mußte. Als er durch dieses Zimmer schritt, war Frau Magloire gerade dabei, das Silber in dem am Kopfende des Bettes stehenden Wandschrank zu verschließen. Das pflegte allabendlich ihre letzte Verrichtung zu sein.

Der Bischof führte seinen Gast in den Alkoven. Ein weißes, frisches Bett war dort gerichtet. Der Fremde stellte seinen Leuchter auf ein kleines Tischchen.

»Und nun gute Nacht«, sagte der Bischof. »Bevor Sie morgen früh aufbrechen, sollen Sie eine Tasse Milch von unseren Kühen bekommen, noch warm.«

»Danke, Herr Abbé«, erwiderte der andere.

Kaum hatte er diese friedvollen Worte ausgesprochen, als plötzlich und ohne Übergang eine seltsame Regung ihn ergriff, über die jene beiden frommen Frauen zu Eis erstarrt wären, wenn sie sie hätten mit ansehen müssen. Noch heute wird es uns schwer, Klarheit darüber zu gewinnen, was in jenem Augenblick in ihm vorging. Wollte er warnen, wollte er drohen? Oder gehorchte er ganz einfach einer instinktiven, ihm selbst unverständlichen Regung? Er wandte sich jäh nach dem Greis um, kreuzte die Arme, richtete einen wilden Blick auf seinen Wirt und rief laut:

»Wahrhaftig, Sie wollen mich hier schlafen lassen, gleich neben Ihrer Tür?«

Er unterbrach sich, lachte unheimlich auf und fuhr fort: »Haben Sie sich denn das auch überlegt? Wer sagt Ihnen, daß ich nicht ein Mörder bin?«

»Das ist Gottes Sache«, erwiderte der Bischof.

Und er hob zwei Finger der rechten Hand, segnete den Gast, der regungslos blieb, und trat, ohne sich umzuwenden oder zurückzublicken, in sein Gemach.

Jean Valjean

Um Mitternacht erwachte Jean Valjean. Jean Valjean entstammte einer armen Bauernfamilie aus der Gegend von Brie. In seiner Kindheit hatte er nicht lesen gelernt. Als er in die Jahre kam, wurde er Baumscherer in Faverolles. Seine Mutter hieß Jeanne Mathieu; sein Vater Jean Valjean oder Vlajean, ein Name, der offenbar aus einem Spitznamen entstanden war, zusammengezogen aus voilà Jean, seht doch Jean.

Jean Valjean war von nachdenklichem, wenn auch nicht trübsinnigem Charakter, wie dies bei liebesfähigen Naturen so häufig vorkommt. Alles in allem wohl etwas verschlafen und matt, wenigstens dem Äußeren nach. Schon in frühester Kindheit verlor er Vater und Mutter. Die Mutter war an einem vernachlässigten Milchfieber gestorben, der Vater, der gleichfalls Baumscherer gewesen, holte sich bei einem Sturz den Tod. So blieb Jean Valjean nur eine ältere Schwester, die bereits Witwe war und sieben Kinder, Knaben und Mädchen, zu ernähren hatte. Diese Schwester hatte Jean Valjean erzogen und, solange ihr Gatte lebte, durchgebracht. Nun, der Mann starb. Damals war das älteste der Kinder acht Jahre alt, das jüngste eins. Jean noch nicht fünfundzwanzig. Er trat an die Stelle des Vaters und erhielt jetzt die Schwester, wie sie ihn erhalten hatte. Das tat er ganz selbstverständlich, wie eine Pflicht. Seine Jugend verbrauchte er in schwerer, schlechtbezahlter Arbeit. Nie sah man ihn mit einer Freundin, er hatte keine Zeit, Liebschaften anzufangen.

Des Abends kehrte er müde nach Hause zurück und aß wortlos seine Suppe. Während er aß, griff wohl Mutter Jeanne, seine Schwester, oft den schmackhaftesten Bissen aus seinem Teller, ein Stück Fleisch, eine Scheibe Speck, das Herz eines Kehlkopfs, um es einem ihrer Kinder zuzustecken; er blieb ruhig über seinen Teller gebeugt, ohne den Kopf zu erheben, achtete dessen nicht. In Faverolles wohnte unweit von Valjeans Hütte, auf der anderen Seite der Straße, eine Bäuerin, die Marie-Claude hieß; die Kinder, die nie satt werden konnten, liefen oft zu ihr hinüber, um angeblich im Namen der Mutter eine Pinte Milch auf Borg zu nehmen, die sie dann hinter einer Hecke oder in einem Winkel der Allee hastig austranken, wobei sie einander den Napf aus der Hand zu reißen suchten, so daß schließlich die Hälfte über die Schürzen lief.