Sie hatte mehrere Verwandte, die schon an der Schwelle des Grabes standen und deren Erbe ihren Söhnen zufallen sollte. Der jüngste der drei sollte von seiner Großtante hunderttausend Livres Rente bekommen; der zweite sollte sogar den Herzogstitel seines Onkels erben; der älteste schließlich sollte in die Pairschaft seines Großvaters eintreten. Der Bischof pflegte den unschuldigen und verzeihlichen Prahlereien einer liebenden Mutter schweigsam zuzuhören. Einmal allerdings war er versonnener als je, während Madame de Lô sich wieder in weitschweifigen Erörterungen all ihrer Hoffnungen erging. Ungeduldig unterbrach sie sich:
»Großer Gott, Vetter, woran denken Sie nur?«
»Mir fällt da«, sagte der Bischof, »ein sonderbarer Ausspruch ein, den ich, wenn ich mich recht erinnere, in den Schriften des heiligen Augustinus gefunden habe: ›Setzet eure Hoffnung in Ihn, der ohne Nachfolger ist.‹«
Bei passender Gelegenheit verstand er es, harmlos zu spotten, aber fast nie war sein Scherz ohne ernsten Sinn. Während der Fastenzeit kam einst ein junger Vikar nach Digne und predigte in der Kathedrale. Er war sehr beredt. Seine Predigt galt der Mildtätigkeit. Er forderte die Reichen auf, den Notleidenden zu Hilfe zu kommen, denn nur so könnten sie der Hölle entgehen, die er ihnen ebenso schauerlich schilderte, wie er das Paradies lieblich und erstrebenswert darstellte. Unter seinen Zuhörern war ein reicher Kaufmann, der sich bereits zur Ruhe gesetzt hatte, ein gewisser Géborand, ein Wucherer, der mit seiner Tuchweberei zwei Millionen verdient hatte. Zeit seines Lebens hatte Géborand keinem Unglücklichen ein Almosen gegeben. Seit jener Predigt aber wurde beobachtet, daß er jeden Sonntag für die alten Bettlerinnen am Tor der Kathedrale einen Sou spendete. Und dabei waren es sechs, die sich in diesen Betrag zu teilen hatten! Der Bischof sah ihn eines Tages, wie er solchermaßen Wohltätigkeit übte, und sagte lächelnd zu seiner Schwester:
»Sieh doch den Herrn Géborand, wie er für einen Sou Paradies kauft.«
Wenn es galt, Spenden einzutreiben, ließ er sich auch durch eine abschlägige Antwort nicht zurückschrecken und fand oft kluge Einwände. Einmal sammelte er in einem Salon für die Armen. Auch der Marquis de Champtercier war zugegen, ein reicher alter Geizhals, der es fertigbrachte, zugleich Ultraroyalist und Ultravoltairianer zu sein. Auch das gibt es. Der Bischof berührte seinen Arm und sagte:
»Herr Marquis, Sie müssen mir etwas geben.«
Der Marquis wandte sich um und erwiderte trocken:
»Monsignore, ich habe meine Armen.«
»Gut, geben Sie sie mir.«
Da er in der Provence geboren war, verstand er die Dialekte des Südens gut. Das gefiel den Leuten und trug nicht wenig dazu bei, daß seine Worte bei ihnen galten. Er war in der Hütte und auf der Alm zu Hause. Die erhabensten Dinge vermochte er in die gewöhnlichsten Worte zu kleiden. Er sprach alle Dialekte und drang ein in alle Herzen.
Niemals urteilte er voreilig und ohne die Umstände zu prüfen. Gern sagte er: »Wir wollen sehen, welchen Weg die Sünde genommen hat.«
Sich selbst nannte er scherzhaft einen Exsünder; niemals gab er sich streng oder zog nach Art der Tugendbolde seine Stirn in düstere Falten; offen bekannte er sich zu seinen Fehlern und hielt sich an einen Lehrsatz, den man ungefähr so zusammenfassen konnte:
»Der Mensch ist von Fleisch, darum trägt er seine Last und seine Versuchung immer bei sich. Sie lauert, und er gibt ihr nach.«
Gab es ein allgemeines Entrüstungsgeschrei, so sagte er wohl auch: »Oh, das muß ja eine Sünde sein, die von vielen Leuten begangen wird, daß alle Heuchler so heftig protestieren und ihr Alibi nachweisen.«
Gegen die Frauen und gegen die Armen, auf denen das Unrecht der Gesellschaft am schwersten lastet, war er stets nachsichtig. »Die Sünden der Frauen, der Kinder, der Bedienten, der Schwachen, der Elenden und der Unwissenden«, sagte er, »sind immer die Schuld der Männer, der Eltern, der Brotgeber, der Starken, Reichen und Wissenden.«
Oder: »Man muß die Unwissenden belehren, so gut man kann; die Gesellschaft lädt eine große Schuld auf sich, indem sie den Unterricht nicht unentgeltlich erteilt; sie ist verantwortlich für die Finsternis des Geistes, in der sie die Menschheit verharren läßt. Wenn die Seele in Dunkelheit schmachtet, ist sie der Sünde zugänglich. Nicht der ist schuldig, der die Sünde begeht, sondern der die Finsternis erzeugt hat.«
Eines Tages hörte er in einem Salon von einem Kriminalprozeß sprechen, der damals in Vorbereitung war. Ein Unglücklicher hatte aus Liebe zu einer Frau und dem Kinde, das sie von ihm hatte, falsches Geld gemacht, weil er keinen anderen Ausweg sah, dem Elend zu entgehen. Falschmünzerei wurde zu jener Zeit noch mit dem Tode bestraft. Man hatte die Frau bei ihrem ersten Versuch, das Falschgeld an den Mann zu bringen, verhaftet. Man hielt sie gefangen, aber Beweise konnte man nur gegen sie nicht erbringen.
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