Was es sah? Nichts, alles – und mit diesem ernsten, fast strengen Blick kleiner Kinder, der das Geheimnis ihrer strahlenden Unschuld unseren dämmernden Tugenden gegenüberstellt. Man möchte sagen, sie wüßten, daß sie Engel sind, wir aber Menschen.
Endlich begann die Kleine zu lachen, und obwohl die Mutter sie zurückhielt, glitt sie zur Erde herab mit der unzähmbaren Energie eines jungen Wesens, das laufen will. Sie bemerkte die beiden Kleinen auf ihrer improvisierten Schaukel, blieb stehen und sperrte, untrügliches Zeichen der Bewunderung, den Mund auf.
Mutter Thénardier band ihre Mädchen los, ließ sie von der Schaukel herabsteigen und sagte:
»Spielt, ihr drei!«
In diesem Alter werden Bekanntschaften rasch geschlossen; keine Minute war vergangen, da waren die kleinen Thénardiers bereits mit der neuen Freundin in dem sehr ernsthaften Bestreben vereint, Löcher in die Erde zu kratzen, wobei sie sich aufs beste zu amüsieren schienen.
»Wie heißt die Kleine?« fragte inzwischen Frau Thénardier.
»Cosette.«
Cosette … das heißt, eigentlich hieß sie Euphrasie. Aber aus Euphrasie hatte die Mutter Cosette gemacht mit jenem anmutigen Instinkt der Mütter und des Volkes, der aus Josepha Pepita und aus Françoise Sillette macht. Das sind Ableitungen, die geeignet sind, die ganze Etymologie auf den Kopf zu stellen. Ich habe eine Großmutter gekannt, die es zuwege brachte, aus Theodor Gnon zu machen.
»Wie alt ist sie?«
»Bald drei Jahre.«
»Wie meine Älteste.«
Inzwischen hatten sich die drei kleinen Mädchen in der Haltung tiefer Besorgnis und doch zugleich beglückender Spannung zusammengedrängt; irgend etwas war passiert. Ein dicker Regenwurm kam aus der Erde gekrochen. Sie fürchteten sich und waren doch entzückt.
»Ach diese Kinder!« rief Mutter Thénardier, »wie rasch die einander kennen! Wenn man sie so sieht, möchte man doch schwören, daß es drei Schwestern sind!«
Dies Wort war der Funke, auf den die andere gewartet zu haben schien. Sie nahm die Hand der Frau Thénardier, sah ihr fest ins Auge und fragte:
»Wollen Sie mein Kind bei sich behalten?«
Frau Thénardier antwortete mit einer Gebärde des Erstaunens, die weder Einwilligung noch Ablehnung bedeuten mußte.
Die Mutter Cosettes fuhr fort:
»Sehen Sie, ich kann die Kleine nicht mitnehmen. Die Arbeit erlaubt es nicht. Mit einem Kind findet man keine Beschäftigung. Bei uns zu Hause sind die Leute so komisch in dieser Beziehung. Der liebe Gott hat mich zu Ihrer Herberge geführt. Als ich Ihre hübschen, sauberen Kinderchen sah, denen es offensichtlich so gut geht, habe ich gleich dieses Gefühl gehabt und habe mir gedacht: Das muß eine gute Mutter sein. Wirklich, die drei könnten Schwestern sein. Und dann komme ich ja auch bald wieder. Wollen Sie mein Kind so lange behalten?«
»Man müßte sich’s überlegen«, meinte Frau Thénardier.
»Ich würde sechs Franken monatlich geben.«
Jetzt wurde aus der Wirtsstube eine Männerstimme hörbar.
»Nicht unter sieben Franken! Und sechs Monate vorausbezahlt!«
»Sechs mal sieben wären zweiundvierzig …«, meinte Frau Thénardier.
»Das werde ich geben«, sagte die Mutter.
»Und fünfzehn Franken Anzahlung für die ersten Anschaffungen«, ließ die Männerstimme sich vernehmen.
»Das wären zusammen siebenundfünfzig Franken«, fuhr Frau Thénardier fort. Mitten in ihre Berechnung hinein aber summte sie ihr:
»So muß es sein, sagt der Soldat …«
»Ich werde es bezahlen«, sagte die Mutter. »Ich habe achtzig Franken. Mir bleibt noch ein Rest, um nach Hause zu kommen … wenn ich zu Fuß gehe. Wenn ich zu Hause Geld verdient habe, komme ich wieder und besuche meinen Schatz.«
Die Männerstimme fragte von neuem:
»Ist denn die Kleine ausgestattet?«
»Es ist mein Mann«, sagte Frau Thénardier.
»Aber gewiß hat sie eine Ausstattung, der kleine Schatz. Ich hatte es mir gleich gedacht, daß es Ihr Mann wäre. Und eine schöne Ausstattung sogar, alles dutzendweise! Seidenkleider wie eine Dame. Alles habe ich hier in meinem Reisesack.«
»Sie müssen es hierlassen«, antwortete die Männerstimme.
»Gewiß lasse ich es ihr hier«, erwiderte die Mutter. »Das wäre doch zu toll, wenn ich mein Kind nackt ließe!«
Jetzt wurde der Hausherr sichtbar.
»Gut«, sagte er.
Man wurde handelseinig. Die Mutter verbrachte die Nacht in der Herberge, erlegte das Geld, ließ das Kind zurück und machte sich am nächsten Morgen mit ihrem schlaff gewordenen Reisesack wieder auf den Weg.
Eine Nachbarin der Thénardiers begegnete ihr, als sie aus dem Ort hinausging, und erzählte später: »Ich sah diese Frau weinen, daß es zum Steinerweichen war.«
Der Wirt aber sagte zu seiner Frau, als Cosettes Mutter gegangen war:
»Nun werde ich die hundertzehn Franken doch bezahlen können, die morgen fällig sind. Diese fünfzig fehlten mir gerade noch. Weißt du auch, daß der Wechsel gewiß protestiert worden wäre? Wir hätten das Gericht auf den Leib gekriegt. Die hast du gut geködert mit deinen Kleinen!«
»Und ich dachte mir nicht einmal was dabei.«
Erste Skizze zweier verdächtiger Gestalten
Wer waren diese Thénardiers?
Diese Leute gehörten zu jener Zwitterart von Menschen, die sich aus ungebildeten Emporkömmlingen und herabgekommenen Gebildeten zusammensetzt, gewissermaßen eine Mischung ist aus dem sogenannten Mittelstand und der Unterklasse, und die Fehler der letzteren mit den Lastern der ersteren verbindet – kurz, die zwar die großherzigen Regungen des Arbeiters nicht kennt, aber auch die Ordnungsliebe der Bürgerklasse eingebüßt hat.
Es waren verkrüppelte Seelen, die, wenn zufällig irgendein Antrieb sie verführte, leicht zu Verbrechern entarten konnten. Die Frau war eher roh, während der Mann einen richtigen Lumpen abgeben konnte.
Dieser Thénardier mußte dem Kenner der Physiognomik auf den ersten Blick mißfallen.
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