Vielleicht würde sie dort einen Bekannten finden, der ihr Arbeit verschaffte. Allerdings … sie mußte ihren Fehltritt verbergen. Es wurde ihr allmählich klar, daß sie sich zu einer zweiten, noch härteren Trennung werde verstehen müssen. Ihr Herz zuckte zusammen, aber sie rang sich durch. Fantine besaß, wie der Leser finden wird, einen wilden Lebensmut. Schon hatte sie jeglichem Schmuck entsagt, hatte sich in Leinen gekleidet und all ihre Seide, ihre Stoffe, Bänder, Spitzen dem Kinde, der einzigen Eitelkeit, die ihr verblieben war, geschenkt. Sie verkaufte ihre kleine Habe und löste dafür zweihundert Franken ein; nachdem sie ihre kleinen Schulden bezahlt hatte, blieben ihr etwa achtzig.
Sie war zweiundzwanzig Jahre alt, als sie an einem schönen Frühlingsmorgen Paris verließ und ihr Kind auf dem Rücken aus der Stadt hinaustrug. Wer die beiden so gesehen hätte, wäre gewiß einer Regung des Mitleids zugänglich gewesen. Diese Frau besaß nichts auf der Welt als dieses Kind und dieses Kind nichts als diese Frau. Fantine hatte das Kind genährt, davon war ihre Brust etwas ermüdet, und sie hustete leicht.
Wir werden keine Gelegenheit mehr haben, von Félix Tholomyès zu sprechen. Begnügen wir uns zu sagen, daß er zwanzig Jahre später unter Louis Philippe ein angesehener Provinzadvokat war, einflußreich und begütert, ein verständiger Wähler und sehr strenger Geschworener; und auch dann noch ein Lebemann.
Gegen Mittag war Fantine, nachdem sie eine Strecke in den sogenannten Kleinfuhren für Paris und Umgebung, zu vier Sous die Meile, zurückgelegt hatte, in Montfermeil eingetroffen. Als sie an der Herberge der Thénardiers vorüberkam, hatten die beiden kleinen Mädchen, die sich auf ihrer Kette ergötzten, Fantines Aufmerksamkeit erregt, und sie war vor ihnen wie vor einer Vision der Freude stehengeblieben. Tiefgerührt betrachtete sie die beiden. Wo Engel sind, kann das Paradies nicht fern sein. Sie glaubte, auf dem Schild der Herberge das geheimnisvolle »Hier ist es!« der Vorsehung zu sehen. Gewiß waren diese beiden Kinder glücklich. Fantine hatte sie mit Bewunderung und Zärtlichkeit betrachtet und konnte sich nicht enthalten, in einem Augenblick, da die Mutter zu einem neuen Vers ansetzte, zu sagen: »Zwei hübsche Kinderchen haben Sie, Frau!«
Selbst die rohesten Kreaturen sind entwaffnet, wenn man ihre Kinder rühmt. Die Mutter hob den Kopf, dankte und lud die Fremde ein, auf der Bank Platz zu nehmen. Sie selbst blieb auf der Schwelle sitzen.
»Ich bin Frau Thénardier«, sagte sie. »Wir betreiben hier diese Gastwirtschaft.«
Dann summte sie wieder einen Vers ihrer Romanze:
»Bin ein Ritter, muß wohl ziehn
Fern nach Palästina hin …«
Diese Frau Thénardier war eine rothaarige, fleischige, plumpe Person, ein rechtes Soldatenweib in ihrer mangelhaften Grazie. Seltsam, sie liebte es dabei, sich zu zieren – eine Neigung, die sie offenbar fleißiger Romanlektüre verdankte. Sie verschlang alte Bücher, und die bringen ja oft eine solche Wirkung zustande. Übrigens war sie noch jung, kaum dreißig Jahre. Wenn sie, die da gebückt saß, aufgestanden wäre, hätte ihre Riesengestalt, die sich auf einem Jahrmarkt hätte sehen lassen können, die Reisende gewiß in Angst versetzt und ihr Zutrauen vermindert: so daß, was wir eben zu erzählen im Begriffe sind, niemals zustande gekommen wäre. Ob ein Mensch sitzt oder aufrecht steht, an solche Dinge knüpft sich manchmal ein Schicksal.
Die Reisende erzählte ihre Geschichte, nicht ohne einige Änderungen an ihr vorzunehmen. Sie sei Arbeiterin, ihr Mann gestorben. In Paris gäbe es keine Arbeit, und darum wolle sie es anderswo versuchen, zum Beispiel zu Hause; sie sei heute morgen zu Fuß von Paris weggegangen, aber da sie das Kind getragen habe, sei sie bald müde geworden und in den Wagen gestiegen, dem sie auf dem Wege nach Villemomble begegnet sei; von Villemomble sei sie zu Fuß nach Montfermeil herübergegangen. Die Kleine sei ein wenig gelaufen, aber nur eine kurze Strecke, und sie sei ja noch so jung, dann habe sie sie wieder auf den Arm nehmen müssen. Jetzt sei der Schatz eingeschlafen.
Darüber küßte sie das Mädchen so leidenschaftlich, daß es erwachte. Das Kind schlug die Augen auf, große, blaue Augen, die denen der Mutter glichen, und sah um sich.
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