Sie hatte fieberglänzende Augen und Schmerzen zwischen den Schultern. Sie hustete stark. Sie haßte Vater Madeleine aus ganzem Herzen, aber sie klagte nicht. Sie mußte siebzehn Stunden täglich nähen, denn ein Unternehmer, der in den Strafanstalten arbeiten ließ, drückte die Preise und senkte dadurch den Lohn der freien Arbeiterin auf neun Sous herab. Neun Sous für siebzehn Stunden Arbeit. Und dabei waren die Gläubiger unerbittlicher als je. Der Möbelhändler, der fast seine ganzen Möbel zurückgenommen hatte, verfolgte sie. Thénardier schrieb, er habe aus allzu großer Güte lange genug gewartet, jetzt aber müsse er den aufgelaufenen Schuldbetrag, hundert Franken, sofort bekommen, sonst werde er Cosette, die noch von ihrer eben überstandenen Krankheit schwach wäre, auf die Straße werfen; möge sie krepieren, wenn sie wolle.

»Gut«, sagte sie, »Ausverkauf!«

Und sie wurde Dirne.

Wenn Herr Bamatabois nichts zu tun hat

In allen Kleinstädten, und so auch in Montreuil sur Mer, gibt es eine Sorte junger Leute, die mit fünfzehnhundert Livres Jahresrente in der Provinz ein Leben führen, wie man es in Paris mit zweihunderttausend bestreitet. Leute, Parasiten, die ein wenig Land, ein großes Stück Dummheit und ein kleines Verstand besitzen, in einem guten Salon für Bauernlümmel gelten würden, im Café aber den Edelmann herauskehren. Sie sprechen von »ihren« Wiesen, »ihren« Wäldern, »ihren« Pächtern, pfeifen Schauspielerinnen aus, um sich als Kunstverständige aufzuspielen, zanken sich mit den Offizieren der Garnison herum, um ihren Mut zu beweisen, jagen, rauchen, gähnen, trinken, schnupfen, spielen Billard, starren aus dem Fenster des Cafés, in dem sie leben, auf die Durchreisenden hinaus, die aus der Postkutsche steigen, speisen im Restaurant, halten sich einen Hund, der unter dem Tisch seinen Knochen frißt, und eine Geliebte, hängen an jedem Sou, kleiden sich übertrieben, verachten die Frauen, kopieren London nach Pariser Kopien und Paris nach Kopien aus Pont-à-Mousson, arbeiten nie, taugen zu nichts und schaden auch nicht sonderlich.

Wären sie reicher, würde man sie elegante junge Leute nennen. Wären sie ärmer, bloß Nichtstuer. So sind sie ganz einfach Unbeschäftigte. Und unter ihnen gibt es Langweilige, Gelangweilte, Verschlafene und Schufte.

Acht oder zehn Monate nach den oben erzählten Vorfällen, in den ersten Tagen des Januars 1823, an einem verschneiten Abend, machte sich einer dieser eleganten Leute, ein solcher Unbeschäftigter, ein Vergnügen daraus, eine Person zu belästigen, die in einem tiefausgeschnittenen Ballkleid vor den Fenstern des Cafés der Offiziere auf und ab ging. Er rauchte, denn es war große Mode, zu rauchen.

Sooft die Frau an ihm vorüberkam, blies er ihr mit einer Rauchwolke aus seiner Zigarre irgendeine Bemerkung zu, die er für geistvoll oder heiter hielt:

»Bist du aber häßlich!« oder: »Du solltest dich besser verstecken!« oder: »Wo hast du denn deine Zähne vergessen?«

Dieser Herr hieß Bamatabois.

Die Frau, eine traurige Erscheinung, die im Schnee auf und ab ging, antwortete nicht, warf nicht einmal einen Blick auf ihn, sondern setzte gelassen und regelmäßig ihre Promenade fort, die sie alle fünf Minuten wie einen Spießrutenläufer an dem sarkastischen Flaneur vorüberführte. Dieser geringe Erfolg verdroß den Müßiggänger, der einen Augenblick, da sie sich umwandte, benützte, um ihr nachzuschleichen, sein Kichern zu unterdrücken, eine Handvoll Schnee vom Boden aufzunehmen und ihr zwischen die nackten Schultern zu stecken. Das Frauenzimmer schrie auf, wandte sich um, stürzte sich auf den Mann, zerkrallte ihm das Gesicht und goß eine Flut gemeiner Schimpfworte auf ihn aus.

Auf den Lärm kamen Offiziere in Mengen aus dem Café heraus, Passanten blieben stehen, es bildete sich ein vergnügter Kreis, der brüllend und applaudierend die beiden Kämpfenden einschloß. Der Mann wehrte sich nach Kräften, sein Hut war bereits zu Boden gefallen; die Frau stieß mit Händen und Füßen nach ihm, brüllte vor Wut und Haß.

Plötzlich trat ein hochgewachsener Mann aus dem Kreise, griff das Frauenzimmer an ihrem kotbespritzten Seidenmieder und sagte:

»Komm mit.«

Sie blickte auf. Sofort verstummte ihre kreischende Stimme. Ihre Augen wurden starr, sie zitterte. Sie hatte Javert erkannt.

Der elegante junge Herr benützte diesen Zwischenfall, um sich aus dem Staub zu machen.

Probleme der städtischen Polizei

Javert drängte die Zuschauer beiseite, durchbrach den Kreis und ging in großen Schritten zum Polizeibüro, das sich am anderen Ende des Platzes befand; die Unglückliche zerrte er hinter sich her. Sie wehrte sich nicht. Kein Wort wurde gewechselt. Die Zuschauer, aufs höchste vergnügt, folgten den beiden scherzend und lachend. Auch das tiefste Elend ist eine Gelegenheit zu gemeinen Späßen.

Im Polizeibüro angelangt, das aus einem niedrigen, überheizten Zimmer mit einem vergitterten Fenster und einer Glastüre bestand, trat Javert mit Fantine ein und versperrte die Tür zum großen Mißbehagen der Neugierigen, die sich auf die Zehenspitzen stellten und ihre Hälse reckten, um etwas zu sehen. Die Neugierde ist eine Art Leckerei. Man sieht, wie man eine Delikatesse verschlingt.

Fantine war in einer Ecke niedergekauert, wie eine furchtsame Hündin. Der Sergeant brachte eine brennende Kerze herein und stellte sie auf den Tisch. Javert setzte sich, zog ein Stempelpapier aus der Tasche und begann zu schreiben.

Die Dirnen sind durch unsere Gesetzgebung vollkommen der Willkür der Polizei ausgeliefert. Die Polizei springt mit ihnen um, wie sie will, bestraft sie nach Gutdünken und vergewaltigt nach Belieben die beiden traurigen Rechte, die von diesen Frauen ihr Gewerbe und ihre Freiheit genannt werden.

Javert war kalt. Sein ernstes Gesicht verriet keinerlei Erregung.