Und doch war er stark in Anspruch genommen. Das war einer jener Augenblicke, wo er ohne Kontrolle, aber mit der ganzen Gewissenhaftigkeit seines Wesens, diese furchtbare Gewalt ausübte. Er fühlte, daß sein elender Polizeiagentenstuhl ein Tribunal war. Er hatte zu urteilen, zu verurteilen. Er brachte alles, was an Gedanken in seinem Kopf war, auf, um dieser großen Sache gerecht zu werden. Je mehr er die Tat jener Dirne prüfte, um so tiefer war seine Entrüstung. Sie hatte unverkennbar ein schweres Verbrechen begangen. Er selbst hatte es gesehen, wie dieses Geschöpf, das außerhalb der Gesetze stand, die Gesellschaft – in Person eines Grundbesitzers und Wählers erster Klasse – beleidigt und geschändet hatte. Eine Prostituierte hatte einen Bourgeois angegriffen. Er hatte es selbst gesehen, Javert.

Schweigend schrieb er.

Als er fertig war, unterzeichnete er das Schriftstück, faltete es zusammen und übergab es dem Sergeanten mit den Worten:

»Nehmen Sie drei Mann und bringen Sie diese Person ins Loch.«

Zu Fantine aber sagte er:

»Du hast sechs Monate abzubrummen.«

Die Unglückliche erzitterte.

»Sechs Monate! Sechs Monate Gefängnis!« rief sie, »und nur sieben Sous Verdienst im Tag! Was soll aus Cosette werden? Ich schulde den Thénardiers noch mehr als hundert Franken, Herr Inspektor, wissen Sie das?«

Sie kroch auf dem von den schmutzigen Stiefeln all dieser Männer verunreinigten Boden mit gerungenen Händen zu Javert hin und jammerte.

»Seien Sie gnädig, Herr Javert! Ich schwöre es Ihnen, ich war nicht schuld. Wenn Sie von Anfang an dabeigewesen wären, hätten Sie es selbst gesehen. Dieser Herr, den ich nicht kenne, hat mir Schnee in den Rücken gestopft. Darf man uns denn Schnee in den Rücken stopfen, wenn wir ruhig an den Leuten vorübergehen und niemandem etwas tun? Da bin ich wütend geworden. Ich bin nicht ganz gesund. Und schon seit einiger Zeit hat er mir immer grobe Sachen gesagt. Du bist häßlich, hat er gesagt, und du hast ja keine Zähne. Ich weiß doch, daß ich keine Zähne habe. Ich habe nichts getan, ich dachte, laß den Herrn sich amüsieren. Ich benahm mich anständig und sagte nichts. Da hat er mir den Schnee in den Rücken gestopft. Lieber, guter Herr Inspektor, ist denn niemand dabeigewesen, der bestätigen kann, daß es so gewesen ist? Vielleicht war es nicht recht von mir, in Wut zu geraten. Aber Sie wissen doch, im ersten Augenblick ist man seiner selber nicht Herr. Es geht einfach mit einem durch. Und dann plötzlich diese Kälte am Rücken, wenn man sich’s gar nicht versieht. Gewiß war es falsch, daß ich dem Herrn den Hut heruntergeschlagen habe. Warum ist er nur weggegangen? Ich würde ihn um Verzeihung bitten. Mein Gott, es käme mir nicht darauf an, ihn um Verzeihung zu bitten. Lassen Sie mich diesmal noch durchrutschen, Herr Javert, bedenken Sie doch, im Gefängnis verdient man sieben Sous täglich, und ich habe hundert Franken zu bezahlen, sonst jagt man meine Kleine fort. Mein Gott, ich kann sie doch nicht bei mir haben. Mit dem gemeinen Beruf … Schicken Sie mich nicht ins Gefängnis.