Sie war eine Beute seltsamer Erregung. Eben noch hatten zwei feindliche Mächte um sie gekämpft: der eine, um sie in die Finsternis hinabzustoßen, der andere, um ihr das Licht zu bringen. Während dieses Kampfes, der in ihren erschrockenen Augen gewaltigen Umfang angenommen hatte, waren ihr die beiden Männer wie zwei Riesen erschienen. Und er, den sie aufs schändlichste beleidigt hatte, war ihr Retter! Hatte sie sich getäuscht? Mußte sie allem abschwören, was sie seit langem empfunden hatte?

Sie fand sich nicht zurecht. Fassungslos blickte sie um sich, fühlte, wie bei jedem Wort, das Madeleine sprach, die furchtbare Finsternis des Hasses sich aufhellte und eine neue Freude in ihrem Herzen wach wurde.

Als Javert hinausgegangen war, wandte sich Madeleine nach ihr um und sagte mit langsamer Stimme gepreßt, als ob er Tränen unterdrücke:

»Ich habe alles gehört. Mir war das alles ganz unbekannt. Ich glaube wohl, daß es so sein muß, ich fühle es. Ich wußte gar nicht, daß Sie nicht mehr in meinen Werkstätten arbeiteten. Warum haben Sie sich damals nicht an mich gewandt? Ich werde Ihre Schulden bezahlen, ich werde Ihr Kind kommen lassen, oder Sie mögen es selbst holen. Sie können hier leben, oder in Paris, oder wo immer Sie wollen. Ich werde für Sie und Ihr Kind sorgen. Sie sollen wieder anständig und glücklich werden.«

Es war mehr, als Fantine ertragen konnte. Sie sollte Cosette wiederbekommen, sollte von diesem schändlichen Leben befreit werden! Frei sein, geachtet, mit Cosette! Sie konnte nur schluchzen. Ihre Knie knickten ein, sie sank vor Madeleine nieder, und bevor er sie hindern konnte, fühlte er, wie sie seine Hand nahm und ihre Lippen daraufpreßte.

Dann sank sie in Ohnmacht.

Sechstes Buch
Javert

Erholung

Madeleine ließ Fantine in jenes Spital schaffen, das er in seinem eigenen Hause eingerichtet hatte. Er übergab sie den Schwestern, die sie zu Bett brachten. Ein hitziges Fieber hatte sie ergriffen. Sie delirierte einen Teil der Nacht, schlummerte aber endlich ein.

Als sie am nächsten Morgen erwachte, hörte sie dicht neben dem Bett jemanden atmen, schob den Vorhang beiseite und erkannte Madeleine.

Jetzt hatte sich Madeleines Gestalt in Fantines Augen vollständig verändert. Er war ihr ein Lichtwesen geworden. Lange sah sie ihn an und wagte nicht, ihn anzureden. Endlich fragte sie schüchtern: »Was tun Sie hier?«

Madeleine war schon seit einer Stunde hier. Er wartete auf Fantines Erwachen. Jetzt nahm er ihre Hand, fühlte ihren Puls und sagte: »Wie fühlen Sie sich?«

»Gut. Ich habe geschlafen. Ich glaube, es geht schon besser.«

Madeleine hatte die Nacht und den Morgen damit zugebracht, Erkundigungen einzuziehen. Jetzt wußte er alles, kannte alle Einzelheiten aus Fantines trauriger Geschichte.

»Sie haben viel gelitten«, sagte er. »Aber beklagen Sie sich nicht, die Hölle, die Sie jetzt verlassen, ist der Zugang zum Himmel. Man muß immer so anfangen.«

Er seufzte tief.

Noch in derselben Nacht schrieb Javert einen Brief. Er trug ihn selbst am nächsten Morgen zum Postbüro von Montreuil sur Mer. Die Anschrift lautete: »An Herrn Chabouillet, Sekretär des Herrn Polizeipräfekten.« Da der Vorfall sich bereits in der Stadt herumgesprochen hatte, vermutete die Posthalterin, die den Brief zu sehen bekam und Javerts Schrift erkannte, er reichte seine Entlassung ein.

Madeleine beeilte sich, an die Thénardiers zu schreiben. Fantine schuldete ihnen hundertzwanzig Franken.