Wenn die Kleine nicht gar so jung wäre, könnte sie ja selbst ihr Brot verdienen, aber in dem Alter geht es doch noch nicht. Ich bin von Natur aus gar keine schlechte Frau. Nur die Faulheit und die Lust, gut zu leben, haben mich so weit gebracht. Branntwein habe ich getrunken, aber nur, weil ich im Elend war, ich mag ihn gar nicht, aber man vergißt alles, wenn man davon trinkt. Als ich noch glücklicher war, hätte man nur in meinen Schrank schauen müssen, da hätte man schon gesehen, daß ich nicht ein kokettes Frauchen war, das unordentlich lebt. Wäsche hatte ich, so viel Wäsche! Erbarmen Sie sich, Herr Javert!«
Man erweicht ein Herz aus Granit. Aber ein Herz aus Holz ist nicht zu rühren.
»Vorwärts!« sagte Javert, »ich habe dich angehört. Bist du fertig? Vorwärts jetzt, du hast sechs Monate! Dagegen vermag der liebe Gott selbst nichts.«
Die Gendarmen griffen nach ihr.
Seit einigen Minuten schon war ein Mann eingetreten, ohne daß man seiner geachtet hatte. Er hatte die Türe wieder geschlossen, sich an die Wand gelehnt und den verzweifelten Bitten Fantines gelauscht.
Als die Gendarmen jetzt Hand an die Unglückliche legten, die sich nicht erheben wollte, trat er vor und sagte:
»Einen Augenblick!«
Javert blickte auf und erkannte Herrn Madeleine. Er zog den Hut und grüßte mit einer linkischen und ärgerlichen Gebärde.
»Verzeihung, Herr Bürgermeister.«
Diese Worte lösten in Fantine eine eigentümliche Wirkung aus. Plötzlich war sie aufgesprungen, stieß die Gendarmen beiseite, trat vor Madeleine hin, bevor man sie zurückreißen konnte, sah ihn starr und wütend an und schrie:
»Ach, du bist also der Bürgermeister!«
Und sie spie ihm ins Gesicht.
Madeleine trocknete sein Gesicht und sagte:
»Inspektor Javert, setzen Sie diese Frau in Freiheit.«
Javert glaubte im Augenblick, er sei wahnsinnig geworden. Auf einen kurzen Moment waren die heftigsten Erregungen zusammengedrängt, die er zeit seines Lebens empfunden hatte. Eine Dirne spie einem Bürgermeister ins Gesicht, das war so ungeheuerlich, daß er es für ein Sakrileg gehalten hätte, derlei überhaupt nur zu denken. Gleichzeitig tauchte in ihm der Gedanke auf, diese beiden Menschen, die Dirne und der Bürgermeister, seien vielleicht von demselben Schlag und dieses Attentat sei vielleicht gar nicht so entsetzlich. Als er aber den Bürgermeister sah, diesen Beamten, der sich in aller Ruhe das Gesicht abtrocknete und befahl, man solle diese Frau in Freiheit setzen, verlor er alle Fassung; er konnte im Augenblick weder einen Gedanken fassen, noch ein Wort über die Lippen bringen.
Hatte er vergessen, daß der Bürgermeister anwesend war? Oder schien es ihm schließlich unmöglich, sich vorzustellen, eine Obrigkeit könne einen derartigen Befehl erteilen? War es so, daß der Bürgermeister nur etwas anderes gesagt hatte, als er meinte?
Wie dem auch sei, er wandte sich mit blassem, kaltem Gesicht, mit einem verzweifelten Blick und leise zitternd an den Bürgermeister und sagte, so unerhört es auch klingen mag, mit gesenktem Blick, aber fester Stimme:
»Herr Bürgermeister, das ist unmöglich.«
»Wieso?« fragte Madeleine.
»Diese Elende hat einen anständigen Mann belästigt.«
»Inspektor Javert«, sagte Madeleine ruhig und versöhnlich, »hören Sie mich an. Sie sind ein Ehrenmann, ich scheue mich nicht, Ihnen Erklärungen zu geben. Es war so: Auf dem Platz, von dem Sie diese Frau wegführten, standen noch Leute herum; ich habe mich erkundigt und habe alles erfahren. Dieser anständige Herr war schuld, und die Polizei hätte ihn arretieren sollen.«
»Aber diese elende Person hat den Herrn Bürgermeister beleidigt«, beharrte Javert.
»Das geht nur mich an. Eine Beleidigung, die mir angetan wird, ist wohl meine Sache. Ich kann tun, was ich will.«
»Verzeihung, Herr Bürgermeister, aber eine Beleidigung ist keine Privatsache, sondern geht auch die Behörden an.«
»Inspektor Javert, die höchste Justiz ist das Gewissen. Ich weiß, was ich tue.«
»Und ich, Herr Bürgermeister, weiß nicht, wie ich das alles verstehen soll.«
»Dann begnügen Sie sich damit, zu gehorchen.«
»Ich gehorche meiner Pflicht. Meine Pflicht ist, dieses Weibsstück auf sechs Monate ins Gefängnis zu setzen.«
»Hören Sie wohl, was ich sage«, antwortete Herr Madeleine sanft. »Sie wird nicht einen einzigen Tag absitzen.«
Jetzt wagte Javert, den Bürgermeister scharf anzusehen, und sagte mit einer noch immer sehr ehrerbietigen Stimme:
»Es ist mir sehr unlieb, Herr Bürgermeister, Ihnen Widerstand leisten zu müssen. Es ist das erstemal in meinem Leben, aber erlauben Sie mir gütigst zu bemerken, daß ich innerhalb der Grenzen meiner Befugnisse handle. Ich habe selbst gesehen, wie dieses Frauenzimmer Herrn Bamatabois, der Wähler und Besitzer des schönen Hauses mit dem Balkon an der Ecke der Esplanade ist, eines Steinbaues von drei Stockwerken, beleidigte. Nun, wie dem auch sei, Herr Bürgermeister, das ist eine Angelegenheit der Straßenpolizei, die mich angeht, und ich behalte dieses Frauenzimmer in Haft.«
Madeleine kreuzte die Arme und sagte mit einer strengen Stimme, wie sie von ihm noch niemals in der Stadt gehört worden war:
»Der Vorfall, von dem Sie sprechen, fällt in die Kompetenz der städtischen Polizei. Laut Paragraph neun, elf, fünfzehn und sechsundsechzig der Kriminalprozeßordnung bin ich es, der in dieser Sache die Entscheidung zu fällen hat. Ich ordne an, daß diese Frau in Freiheit gesetzt wird.«
Javert versuchte eine letzte Anstrengung.
»Herr Bürgermeister …«
»Ich erinnere Sie an den Paragraphen einundachtzig des Gesetzes vom 13. Dezember 1799 über willkürliche Gefangensetzung.«
»Herr Bürgermeister, erlauben Sie …«
»Kein Wort mehr!«
»Aber …«
»Hinaus!« rief Herr Madeleine.
Javert empfing den Schlag aufrecht und ohne mit der Wimper zu zucken, wie ein russischer Soldat. Er verneigte sich tief und ging.
Fantine trat zur Seite und sah ihn erstaunt vorübergehen.
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