Sein Bruder war gekommen und hatte ihn gepflegt. Dann hatte Guillaume sich mit der Erbschaftsangelegenheit beschäftigt und nach der Teilung des kleinen Vermögens ihm das Haus und eine kleine Rente überlassen, während er seinen Anteil in barem Gelde mitnahm. Als er ihn außer Gefahr gesehen hatte, war er wieder gegangen und in sein Dunkel zurückgekehrt. Pierre hatte nichts getan, um Guillaume zurückzuhalten, denn er sah ein, daß zwischen ihnen eine weite Kluft sich gebildet hatte. Anfangs hatte er unter der Einsamkeit schwer gelitten. Dann aber hatte er sich in der tiefen Stille der Zimmer, die der Lärm der Straße nicht störte, und unter dem verschwiegenen Schatten des kleinen Gartens sehr wohl befunden. Sein Zufluchtsort war vor allem das alte Laboratorium seines Vaters, das seine Mutter zwanzig Jahre sorgfältig verschlossen gehalten hatte, gleichsam als wollte sie auf diese Weise dort die Vergangenheit mit ihrem Unglauben und ihrer Verdammnis einmauern. Vielleicht wäre sie trotz ihrer Sanftmut und ihrer andächtigen Verehrung für den Gatten doch noch eines Tages zur Vernichtung der Bücher und Papiere geschritten, wenn der Tod sie nicht überrascht hätte. Pierre hatte die Fenster wieder öffnen, den Schreibtisch und die Bücher abstauben lassen, sich in dem großen Lehnstuhl niedergelassen und verbrachte dort köstliche Stunden. Wie neugeboren durch seine Krankheit und in die Tage seiner Jugend zurückversetzt, genoß er durch die Lektüre der Bücher, die ihm unter die Hände kamen, ein ihm unbekanntes geistiges Behagen.

Während dieser zwei Monate langsamer Wiedergenesung hatte er, soviel er sich erinnerte, nur den Doktor Chassaigne empfangen. Das war ein alter Freund seines Vaters, ein gediegener Arzt, der sich bescheiden auf seine Eigenschaft als Praktiker beschränkte und nur den einen Ehrgeiz besaß, seine Kranken zu kurieren. Vergebens bemühte er sich um Frau Froment, aber er durfte sich rühmen, den jungen Priester aus einer schlimmen Lage gerettet zu haben. Von Zeit zu Zeit besuchte er ihn, plauderte mit ihm und suchte ihn zu zerstreuen. Er erzählte ihm von seinem Vater, dem großen Chemiker. Er wußte reizende Anekdoten von ihm zu berichten und rührende Einzelheiten einer innigen Freundschaft. So hatte sich der Sohn während seiner langsam fortschreitenden Erholung von seinem Vater ein Bild von verehrungswürdiger Einfachheit, Güte und Liebenswürdigkeit gebildet. Das war sein Vater, wie er wirklich war, und nicht der Mann der strengen Wissenschaft, wie er sich ihn früher nach den Erzählungen seiner Mutter vorgestellt hatte. Sie hatte ihn allerdings niemals anderes als aufrichtige Verehrung und Hochachtung des teuren Verstorbenen gelehrt. Aber war er nicht der Ungläubige, der Mann der Verneinung, der die Engel weinen machte, der Helfershelfer der Ruchlosigkeit, die sich gegen Gottes Werk richtete? So war er eine düstere Schreckenserscheinung gewesen, ein Verdammter, der als Gespenst im Hause umging, während er jetzt zum hellen, freundlichen Licht wurde, als ein von heißem Verlangen nach Wahrheit beseelter Arbeiter, der niemals anderes erstrebt hatte als die Liebe und das Glück aller. Doktor Chassaigne, ein Sohn der Pyrenäen, geboren in einem Dorfe, wo man noch an Hexen glaubte, würde sich noch eher der Religion zugewendet haben, wenn er auch seit den vierzig Jahren, die er in Paris lebte, seinen Fuß niemals in eine Kirche gesetzt hätte. Er war der felsenfesten Überzeugung, daß Michel Froment, wenn es irgendwo einen Himmel gäbe, sich dort befände und auf einem Throne zur Rechten des lieben Gottes säße.

Und Pierre durchlebte noch einmal in wenigen Minuten die entsetzlichen zwei Monate, in deren Verlauf ihn eine schwere Krisis heimgesucht hatte, nicht etwa, weil er in der Bibliothek Bücher antireligiösen Inhalts gefunden hatte, sondern es war nach und nach ganz gegen seinen Willen in ihm eine wissenschaftliche Klarheit aufgestiegen, ein Ganzes von bewiesenen Phänomenen hatte sich gebildet und die Dogmen zerstört und in ihm nichts von all den Dingen übriggelassen, an die er glauben sollte. Er kam sich nach der Krankheit wie neugeboren vor, es schien, als ob er noch einmal anfinge zu leben und zu lernen in dem angenehmen körperlichen Befinden des Wiedergenesenden, in jenem noch nicht ganz gekräftigten Zustande, der seinem Verstande eine durchdringende Klarheit verlieh. Im Seminar hatte er unter dem Einflusse seiner Lehrer seinen nachgrübelnden Geist, seinen unstillbaren Wissensdurst im Zaume gehalten. Was man ihn lehrte, das überraschte ihn wohl. Aber er kam doch dahin, seine Vernunft der Lehre zum Opfer zu bringen. In jener Zeit wurde der mühsame Bau des Dogmas durch eine Empörung der siegenden Vernunft gestürzt, die ihr Recht forderte und nicht mehr zum Schweigen gebracht werden konnte. Die Wahrheit brach sich mit so unwiderstehlicher Gewalt Bahn, daß er einsah, er würde niemals wieder den Irrtum in seinem Geiste von neuem zur Herrschaft bringen können. Es war der vollständige Zusammenbruch des Glaubens. Wenn er es vermocht hatte, das Fleisch in sich zu töten, indem er auf den Traum seiner Jugend verzichtete, wenn er so sehr Herr über seine Sinnlichkeit war, daß er aufgehört hatte, Mann zu sein, so wußte er jetzt doch, daß ihm der Verzicht auf seine Vernunft unmöglich sein würde. Und er täuschte sich nicht.