Es war sein Vater, der in seinem Innern wieder erstand, und der schließlich in diesem ererbten Dualismus über die Mutter den Sieg davontrug. Sein langes Gesicht mit der hohen Stirn seinen sich noch verlängert zu haben, während das feine Kinn und der weiche Mund immer mehr zurücktraten. Und doch empfand er Trauer darüber, daß er nicht mehr glaubte, und das heiße Verlangen, noch glauben zu können, überwältigte ihn immer wieder, wenn sein gutes Herz, sein Bedürfnis nach Liebe wach wurde in stillen Dämmerstunden. Dann mußte erst die Lampe kommen, er mußte wieder Helligkeit in und um sich sehen, um die Energie und die Ruhe seiner Vernunft wiederzufinden, die Stärke des Märtyrers, den Willen, alles für den Frieden seines Gewissens zu opfern.

Schließlich hatte sich die Krisis gelöst. Er war Priester und glaubte nicht mehr. Wie ein unendlicher Abgrund tat sich diese Erkenntnis vor ihm auf. Das war das Ende seines Lebens, der Zusammenbruch von allem. Was sollte er tun? Gebot ihm nicht die Ehrlichkeit, die Soutane von sich zu werfen und wieder in die Welt zurückzukehren? Aber er hatte schon genug abtrünnige Priester gesehen, und hatte sie verachtet. Ein verheirateter Priester erfüllte ihn mit Abscheu. Das war ohne Zweifel ein Überbleibsel seiner langen religiösen Erziehung. Er hielt noch fest an der Unverletzlichkeit des Priestertums, an dem Gedanken, daß der, der sich Gott geweiht hatte, sich nicht wieder frei machen könnte. Vielleicht hielt er sich auch schon für zu sehr gekennzeichnet, für so verschieden von den anderen Menschen, daß er fürchten mußte, von ihnen als ein Fremder in ihrer eigenen Welt angesehen zu werden. Da man ihn seiner Männlichkeit beraubt hatte, wollte er auch in seinem schmerzensreichen Stolze für sich bleiben. Und nach langen qual- und angstvollen Tagen, nach unaufhörlich wiederkehrenden Kämpfen, in denen sich sein Verlangen nach Glück und die Kraft seiner wiedergewonnenen Gesundheit stritten, faßte er den heroischen Entschluß, Priester zu bleiben, und zwar ein ehrbarer Priester. Da er sein Fleisch ertötet hatte, wenn es ihm auch nicht gelungen war, seine Vernunft zum Schweigen zu bringen, so war er sicher, daß er das Gelübde der Keuschheit halten würde. Und das Leben, das er lebte, war nach seiner festen Überzeugung ein reines und rechtschaffenes. Was bedeutete es für ihn, daß er zu leiden hatte, wenn nur niemand auf der Welt den erloschenen Vulkan in seinem Herzen ahnte, die Nichtigkeit seines Glaubens, die entsetzliche Lüge, an der er sich zu Tode quälte! Sein fester Halt würde seine Unbescholtenheit sein, er würde sein Priesteramt als ehrbarer Mann ausüben, ohne eines der Gelübde zu brechen, die er getan hatte. Er wollte fortfahren, nach den Kirchenvorschriften seine Pflichten als Diener Gottes auszuüben. Er würde predigen, er würde am Altar das Hochamt abhalten, er würde an die Gläubigen das Lebensbrot austeilen. Wer würde wagen, es ihm als Verbrechen anzurechnen, daß er den Glauben verloren hatte? Was konnte man von ihm denn noch mehr verlangen? Hatte er nicht sein Leben seinem Gelübde geweiht, hatte er sein Priestertum nicht hochgehalten, hatte er nicht alle Werke der christlichen Liebe ausgeübt, ohne jede Hoffnung auf eine zukünftige Belohnung? So hatte er sich schließlich beruhigt, stolz und mit hocherhobenem Haupte, in der trostlosen Größe eines Priesters durch die Welt zu gehen, der nicht mehr glaubt und doch fortfährt, über den Glauben der anderen zu wachen. Er stand gewiß nicht allein, er wußte, daß er Brüder hatte, Priester, die dem Zweifel verfallen waren, die aber dennoch am Altare blieben, wie Soldaten ohne Vaterland, und die den Mut hatten, den frommen Betrug auf die kniende Menge herabstrahlen zu lassen.

Seit seiner vollständigen Genesung hatte Pierre sein Amt an der kleinen Kirche zu Neuilly wieder übernommen. Jeden Morgen las er seine Messe. Er war fest entschlossen, jede andere Stellung, jede Beförderung abzulehnen. So gingen Monate, Jahre dahin. Hartnäckig blieb er bei seinem Vorsatze, nur ein gewöhnlicher Priester zu sein, der unbekannteste und niedrigste der Priester, die man in einem Kirchspiel duldet, die erscheinen und wieder verschwinden, wenn sie ihre Pflicht erfüllt haben. Jede höhere Würde wäre ihm nur wie eine Verschlimmerung seiner Lage vorgekommen, wie ein Raub, den er an Würdigeren beging. Er mußte sich wehren gegen die Anerbieten, denn seine Verdienste konnten nicht unbeachtet bleiben. Man wunderte sich im erzbischöflichen Palaste über diese eigensinnige Bescheidenheit. Man wollte die Kraft, die man in ihm ahnte, nutzbar machen. Nur zuweilen empfand er es mit bitterem Bedauern, daß er sich nicht nützlich machte, daß er nicht an einem großen Werke arbeitete, an der Wiederherstellung des Friedens auf der Erde, an dem Heile und dem Glücke aller.