Glücklicherweise waren seine Tage frei, und er tröstete sich durch wahre Arbeitswut. Alle Bücher der Bibliothek seines Vaters wurden verschlungen. Dann nahm er seine Studien und Untersuchungen wieder vor und beschäftigte sich eifrig mit der Geschichte der Völker, von dem Wunsche erfüllt, dem sozialen und religiösen Übel auf den Grund zu kommen. Er wollte sich Klarheit verschaffen, ob denn wirklich gar keine Hilfe vorhanden wäre.

Eines Morgens hatte Pierre, als er in einer der großen Schubladen kramte, die sich unten in den Bibliothekschränken befanden, ein Bündel Abhandlungen und Akten über die Erscheinungen von Lourdes entdeckt. Es befanden sich darunter die vollständigen Dokumente, Abschriften der Verhöre der Bernadette, der behördlichen Protokolle, der Polizeiberichte und der ärztlichen Konsultationen, dazu Privatbriefe und vertrauliche Schreiben vom höchsten Interesse. Er war sehr erstaunt über diesen Fund und hatte den Doktor Chassaigne darüber befragt, der sich auch erinnerte, daß sein Freund, Michel Froment, sich leidenschaftlich mit dem Fall der Bernadette beschäftigt hatte. Er selbst, der aus einem in der Nachbarschaft von Lourdes gelegenen Dorfe stammte, hatte dem Chemiker einen Teil dieser Akten verschafft. Pierre hatte sich einen Monat lang leidenschaftlich mit der Sache beschäftigt, von der reinen Gestalt der Seherin wunderbar angezogen, zugleich aber auch empört über das, was später geschehen war, über den rohen Fetischismus, über den jammervollen Aberglauben, über die triumphierende Geschäftstüchtigkeit. In seinem Ringen mit dem Unglauben schien diese Geschichte nur dazu zu dienen, die Niederlage des Glaubens zu beschleunigen. Zugleich aber war sie auch derart, daß sie seine Wißbegierde reizte. Er hätte gern eine Untersuchung angestellt, die wissenschaftliche Wahrheit festgestellt und dem reinen Christentum den Dienst erwiesen, es von dieser Schlacke zu befreien. Er hatte sein Studium aufgeben müssen, da er vor einer Reise nach der Grotte zurückschreckte und die übergroßen Schwierigkeiten erkannte, die ihm die Beschaffung der ihm fehlenden Aufschlüsse machte. So lebte in ihm nur seine zärtliche Liebe für Bernadette fort, an die er nie ohne eine wunderbar rührende Empfindung und ohne unendliches Mitleid denken konnte.

Die Tage schwanden dahin. Pierres Leben wurde immer einsamer. Doktor Chassaigne war plötzlich nach den Pyrenäen gereist. Er hatte seine Praxis aufgegeben und seine kranke Frau nach Cauterets gebracht, die, wie er und seine Tochter mit Bekümmernis sahen, täglich mehr und mehr dahinschwand. Seit dieser Zeit war es in dem kleinen Haus in Neuilly ganz einsam geworden. Pierre hatte keine andere Zerstreuung als die Besuche, die er von Zeit zu Zeit bei Guersaints machte. Sie waren schon lange aus dem Nachbarhaus fortgezogen und hatten sich in einer elenden Straße des Stadtviertels in einer kleinen Wohnung eingemietet. Die Erinnerung seines ersten Besuches dort lebte noch so in ihm, daß er jedesmal einen Stich in seinem Herzen verspürte, wenn er sich seine Aufregung beim Anblick der armen Marie wieder ins Gedächtnis zurückrief.

Er erwachte aus seinen Träumereien, sah sich um und bemerkte Marie ausgestreckt auf der Bank liegen, so, wie er sie damals wiedergefunden hatte, gefesselt an ihren einer Dachrinne ähnlichen Sarg, an dem man Räder anbringen konnte, um sie fortzubewegen. Sie, die einst übersprudelte, immer bereit, zu lachen und zu springen, litt unter der Untätigkeit und dem erzwungenen Stilliegen. Nur ihre Haare hatten sich erhalten. Sie umhüllten sie wie ein goldener Mantel. Sie selbst war so abgemagert, daß sie kleiner geworden zu sein und die Finger eines Kindes wiederbekommen zu haben schien. Was aber in diesem bleichen Gesichte am schmerzlichsten berührte, das waren die leeren, starren Blicke, die nichts sahen, die einen Ausdruck des vollständigen Aufgehens in ihrer Krankheit hatten. Dennoch bemerkte sie, daß er sie ansah, und wollte ihm zulächeln. Nur Klagelaute entschlüpften den Lippen dieses armen, gelähmten Wesens, das überzeugt war, es würde vor dem Wunder sterben! Er war tief erschüttert. Er hörte nur noch sie, er sah nur noch sie unter allen den anderen Kranken, die der Wagen beherbergte, gleichsam als ob sie all die anderen Qualen in dem Todeskampf ihrer Schönheit, ihres Frohsinns und ihrer Jugend zusammenfaßte.

Allmählich kehrte Pierre, ohne daß seine Augen Marie verließen, in die Vergangenheit zurück. Er durchkostete noch einmal die Stunden, die er in ihrer Nähe verlebt hatte, wenn er in die armselige Wohnung hinaufgestiegen war, um ihr Gesellschaft zu leisten. Herr von Guersaint hatte sich vollständig ruiniert, da er sich in den Kopf gesetzt hatte, die Fabrikation von Heiligenbildern zu verbessern, deren Mittelmäßigkeit ihn ärgerte.