Wenn eine solche Wunde verschwunden war, sollte sich da nicht auch ihre Wunde wieder schließen können, so daß ihr Gesicht nur eine leichte Narbe behielte und wieder wie die Gesichter aller Menschen wurde ? Sophie mußte sich an einer der Eisenstangen festhalten und ihren Fuß bald rechts und bald links auf die Scheidewand legen; sie wurde nicht müde, sondern war sehr stolz und glücklich über die Ausrufe, die überall laut wurden, Ausrufe voll zitternder Bewunderung und frommer Scheu, die man vor ihrer kleinen Person, vor dem kleinen Fuße empfand, der jetzt wie geweiht und geheiligt war.
»Es ist ohne Zweifel ein fester Glaube nötig«, dachte Marie ganz laut; »man muß eine vollkommen reine Seele haben ...«
»Und sich an Herrn von Guersaint wendend, sagte sie: »Vater, ich fühle, daß ich geheilt würde, wenn ich zehn Jahre alt wäre, wenn ich die vollkommen reine Seele eines jungen Mädchens hätte.«
»Aber du bist ja doch noch ganz wie ein Kind von zehn Jahren, mein Liebling! Nicht wahr, Pierre, Mädchen von zehn Jahren können gar keine reinere Seele haben?« Mit seiner lebhaften Einbildungskraft und seinem phantastischen Sinne liebte er natürlich Wundergeschichten. Der Priester, tief bewegt von der inbrünstigen Reinheit des jungen Mädchens, vermied es, auf Erörterungen einzugehen und ließ sie ganz der tröstlichen Einbildung sich hingeben, die wie ein Wehen durch den Wagen rauschte. Seit der Abfahrt von Portiers war die Temperatur noch drückender geworden. Ein Gewitter zog an dem kupferfarbigen Himmel auf, und es war, als ob der Zug durch einen Schmelzofen hindurchführe. Ausgestorben und verlassen in der glühenden Sonne flogen Dörfer vorüber. In Couhd-Vernac betete man den Rosenkranz noch einmal. Dann wurde ein Choral gesungen. Aber diese Andachtsübungen kamen lässiger zur Ausführung. Schwester Hyacinthe, die bis jetzt noch nicht einmal hatte frühstücken können, hatte sich endlich dazu entschlossen, rasch ein kleines Brot und ein paar Früchte zu essen, fuhr aber trotzdem fort, den fremden Mann zu überwachen, dessen leises, mühsames Atmen seit einigen Minuten regelmäßiger zu sein schien. Es war drei Uhr, als man in Ruffee die Abendmette der Heiligen Jungfrau betete.
»Ora pro nobis, sancta Dei Genitrix,
Ut digni efficiamur promissionibus Christi.«
Als man damit zu Ende war, wandte sich Herr Sabathier, der die kleine Sophie beobachtet hatte, während sie ihren Strumpf und ihren Schuh wieder anzog, an Herrn von Guersaint.
»Der Fall dieses Kindes ist ohne Zweifel sehr interessant. Das ist aber noch gar nichts, es gibt noch viel wunderbarere Fälle ... Kennen Sie die Geschichte von Pierre de Rudder, dem belgischen Arbeiter?«
Alle schickten sich sofort an, die Geschichte mitanzuhören.
»Dieser Mann hatte bei dem Sturze von einem Baume das Bein gebrochen. Nach Verlauf von acht Jahren waren die beiden Knochenfragmente noch nicht wieder zusammengewachsen, man sah die beiden Enden tief drinnen in einer großen Wunde, aus der fortwährend Eiter floß. Das Bein hing kraftlos herunter und ließ sich nach allen Richtungen hin drehen und wenden ... Nun, bei ihm genügte es sogar, daß er ein Glas von dem wundertätigen Wasser trank, sein Bein war mit einem Schlage wiederhergestellt. Er konnte ohne Krücken gehen, und der Arzt hat zu ihm gesagt: ›Ihr Bein ist wie das eines soeben geborenen Kindes.‹ Es stimmte vollkommen! Ein wirklich ganz neues Bein!«
Niemand sprach, es fand nur ein Austausch von verzückten Blicken statt.
»Und so«, fuhr Herr Sabathier fort, »so ist auch die Geschichte des Steinhauers Louis Bouriette, eines der ersten Wunder von Lourdes. Kennen Sie die? ... Er war bei einer Minenexplosion verwundet worden. Das rechte Auge war ganz verloren, das linke stark gefährdet ... Da ließ er sich eines Tages von seiner Tochter eine Flasche Wasser von der Quelle holen, die noch kaum richtig floß. Mit diesem Wasser wusch er sein Auge und betete dabei heiß und inbrünstig. Plötzlich stieß er einen Schrei aus, er sah, er sah ebensogut wie Sie und ich ... Der Arzt, der ihn behandelte, hat darüber eine sehr ausführliche Abhandlung geschrieben, so daß auch nicht der leiseste Zweifel möglich ist.«
»Es ist wunderbar«, sagte Herr von Guersaint entzückt.
»Wollen Sie noch ein anderes Beispiel? Francois Macary, Fischer von Lavour, hatte seit achtzehn Jahren an der inneren Seite des linken Beines ein krampfaderiges Geschwür. Es war mit ihm schon so weit gekommen, daß er sich gar nicht mehr rühren konnte, und die Wissenschaft verurteilte ihn zu ewigem Siechtum ... Da schließt er sich eines Abends mit einer Flasche Wasser aus Lourdes ein. Er löst die Bandagen, wäscht sich die beiden Beine und trinkt den Rest der Flasche aus. Dann legt er sich nieder und schläft ein. Als er wieder erwacht, befühlt und betrachtet er sich, und siehe da, nichts ist mehr vorhanden! Alles ist verschwunden ... Die Haut am Knie war so glatt und so frisch, wie es mit zwanzig Jahren sein muß.«
Diesmal erfolgte ein stürmischer Ausbruch des Erstaunens und der Verwunderung. Die Kranken und die Pilger traten ein in das Zauberland der Wunder, wo das Unmögliche sich verwirklicht, wo man gemächlich von Wunder zu Wunder schreitet.
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