Jeder hatte eine Geschichte zu erzählen und brannte vor Begierde, seinen Glauben und seine Hoffnung durch ein Beispiel zu stützen.
Die schweigsame Frau Maze war die erste, die sich zum Erzählen veranlaßt fühlte.
»Ich habe eine Freundin, die die Witwe Rizan gekannt hat, die Dame, deren Heilung ebenfalls so großes Aufsehen erregte ... Seit vierundzwanzig Jahren war sie auf der ganzen linken Seite gelähmt. Sie gab wieder von sich, was sie aß, sie glich einer leblosen Masse, die man im Bette umdrehen mußte. Eines Abends befand sie sich so schlecht, daß der Arzt sagte, sie würde in der Nacht sterben. Eine Stunde später erwachte sie aus ihrer Betäubung und bat mit schwacher Stimme, ihre Tochter solle bei einer Nachbarin ein Glas Wasser aus Lourdes holen. Aber erst am folgenden Morgen konnte sie das Glas Wasser bekommen und rief: ›Oh, liebe Tochter, es ist das Leben, was ich trinke! Reibe mir das Gesicht, den Arm, das Bein, den ganzen Körper!‹ Und als die Tochter ihrem Befehle nachkam, sah sie, wie sich die Geschwulst nach und nach legte, wie die gelähmten und aufgetriebenen Glieder allmählich ihre Geschmeidigkeit und ihr natürliches Aussehen wiedergewannen ... Das war aber noch nicht alles; Frau Rizan rief, sie sei geheilt, sie habe Hunger, sie wolle Fleisch und Brot haben, sie, die seit vierundzwanzig Jahren kaum gegessen hatte. Und sie stand auf und zog sich an, während ihre Tochter den Nachbarinnen, die sie für eine Waise hielten, als sie sie so erschüttert sahen, antwortete: ›Nein, nein! Mama ist nicht tot, Mama ist auferstanden!‹«
Tränen waren Frau Vincent in die Augen getreten. Oh, wenn sie doch hätte sehen können, daß ihre kleine Rose wieder auflebte, mit gutem Appetit äße und fröhlich herumspränge! Ein anderer Fall, der eines jungen Mädchens, den man ihr in Paris erzählt und der viel zu ihrem Entschlusse, ihre kleine Kranke nach Lourdes zu bringen, beigetragen hatte, kam ihr wieder ins Gedächtnis. »Auch ich kenne die Geschichte einer Gelähmten, Lucie Druon, die in einem Waisenhause aufgezogen wurde und schon in ihrer frühesten Jugend nicht mehr niederknien konnte. Ihre Glieder waren ganz verkrümmt; ihr rechtes Bein war viel kürzer und hatte sich schließlich um das linke geschlungen. Wenn eine ihrer Gefährtinnen sie trug, so sah man die Beine wie abgestorben in der Luft herumbaumeln. Bemerken Sie wohl, daß sie nicht nach Lourdes gegangen ist. Sie hat einfach eine neuntägige Andacht gehalten. Aber während dieser neun Tage hat sie gefastet, und ihr Verlangen nach Heilung war ein so großes, daß sie sogar die Nächte im Gebet zubrachte. Am neunten Tage endlich, als sie etwas Wasser aus Lourdes trank, fühlte sie in ihren Beinen eine heftige Erschütterung. Sie stand auf und sank zurück, stand wieder auf und konnte gehen. Alle ihre Gefährtinnen waren erstaunt, beinahe erschreckt und riefen immerfort: ›Lucie geht! Lucie geht!‹ Und es war wahr, ihre Beine waren in wenigen Sekunden wieder gerade, gesund und kräftig geworden. Sie durchschritt den Hof, konnte in die Kapelle hinaufsteigen, wo die ganze Gemeinde mit dankerfülltem Herzen das Magnifikat sang ... Ach, das liebe Kind! Sie durfte glücklich sein, sehr glücklich!«
Tränen rannen über ihre Wangen auf das bleiche Gesicht ihrer Tochter herab, das sie mit leidenschaftlichen Küssen bedeckte.
Das Interesse nahm immer mehr zu, und die begeisterte Freude über diese schönen Erzählungen, in denen der Himmel über die menschliche Schwachheit triumphierte, regte diese kindlichen Seelen so sehr auf, daß die am schwersten Kranken von neuem auflebten und die Sprache wiederfanden. Hinter der Erzählung eines jeden verbarg sich die Beschäftigung mit seinem eigenen Leiden, das Vertrauen, daß auch er geheilt werden würde, da ja schon einmal eine gleiche Krankheit wie ein wüster Traum durch einen göttlichen Hauch vertrieben worden war.
»Ah!« stammelte Frau Vêtu mit schmerzverzerrtem Munde, »da war auch eine, Antoinette Thardivail, deren Magen wie der meinige zerfressen war. Geschwülste bildeten sich so zahlreich, daß sie acht Monate hindurch Blut spie. Auch war sie dem Tode schon nahe, weil sie verhungerte. Ihre Haut lag wie festgeleimt auf den Knochen, bis sie Wasser aus Lourdes trank und sich damit die Magengrube waschen ließ. Drei Minuten später fand sie ihr Arzt, der sie am Abend vorher mit dem Tode ringend verlassen hatte, außerhalb des Bettes am Kamin sitzend, wie sie mit dem besten Appetit einen Hühnerflügel verspeiste. Sie hatte keine Geschwülste mehr, sie lachte wie mit zwanzig Jahren, und ihr Gesicht fing an, den strahlenden Glanz der Jugend wiederzubekommen. Ach, glücklich der, der essen kann, was er mag, der wieder jung wird, der nicht mehr leidet!«
»Und die Heilung der Schwester Julienne!« sagte die Grivotte, die sich auf den Ellenbogen erhoben hatte und deren Augen im Fieber glühten. »Sie wurde, wie ich, von einem schlimmen Katarrh gequält und fing dann an, Blut zu speien. Alle sechs Monate bekam sie einen Rückfall und mußte sich ins Bett legen. Vergeblich hatte man es mit allen möglichen Arzneimitteln versucht, mit Jod, mit Zugpflastern und sonstigem.
1 comment