"Siehe her,
gutes Märchen", sagte er, indem er auf die Schlafenden zeigte, "für
diese sind deine bunten Sachen nichts; schlüpfe schnell durch das Tor;
sie ahnen dann nicht, daß du im Lande bist, und du kannst friedlich
und unbemerkt deine Straße ziehen. Ich will dich zu meinen Kindern
führen; in meinem Hause geb' ich dir ein stilles, freundliches
Plätzchen; dort kannst du wohnen und für dich leben; wenn dann meine
Söhne und Töchter gut gelernt haben, dürfen sie mit ihren Gespielen
zu dir kommen und dir zuhören. Willst du so?"
"Oh, wie gerne folge ich dir zu deinen lieben Kleinen; wie will ich
mich befleißen, ihnen zuweilen ein heiteres Stündchen zu machen!"
Der gute Mann nickte ihr freundlich zu und half ihr, über die Füße
der schlafenden Wächter hinüberzusteigen. Lächelnd sah sich Märchen
um, als sie hinüber war, und schlüpfte dann schnell in das Tor.
Die Karawane
Wilhelm Hauff
Es zog einmal eine große Karawane durch die Wüste. Auf der
ungeheuren Ebene, wo man nichts als Sand und Himmel sieht, hörte man
schon in weiter Ferne die Glocken der Kamele und die silbernen
Röllchen der Pferde, eine dichte Staubwolke, die ihr vorherging,
verkündete ihre Nähe, und wenn ein Luftzug die Wolke teilte,
blendeten funkelnde Waffen und helleuchtende Gewänder das Auge. So
stellte sich die Karawane einem Manne dar, welcher von der Seite her
auf sie zuritt. Er ritt ein schönes arabisches Pferd, mit einer
Tigerdecke behängt, an dem hochroten Riemenwerk hingen silberne
Glöckchen, und auf dem Kopf des Pferdes wehte ein schöner Reiherbusch.
Der Reiter sah stattlich aus, und sein Anzug entsprach der Pracht
seines Rosses; ein weißer Turban, reich mit Gold bestickt, bedeckte
das Haupt; der Rock und die weiten Beinkleider waren von brennendem
Rot, ein gekrümmtes Schwert mit reichem Griff an seiner Seite. Er
hatte den Turban tief ins Gesicht gedrückt; dies und die schwarzen
Augen, die unter buschigen Brauen hervorblitzten, der lange Bart, der
unter der gebogenen Nase herabhing, gaben ihm ein wildes, kühnes
Aussehen.
Als der Reiter ungefähr auf fünfzig Schritt dem Vortrab der Karawane
nahe war, spornte er sein Pferd an und war in wenigen Augenblicken an
der Spitze des Zuges angelangt. Es war ein so ungewöhnliches
Ereignis, einen einzelnen Reiter durch die Wüste ziehen zu sehen, daß
die Wächter des Zuges, einen Überfall befürchtend, ihm ihre Lanzen
entgegenstreckten.
"Was wollt ihr", rief der Reiter, als er sich so kriegerisch
empfangen sah, "glaubt ihr, ein einzelner Mann werde eure Karawane
angreifen?"
Beschämt schwangen die Wächter ihre Lanzen wieder auf, ihr Anführer
aber ritt an den Fremden heran und fragte nach seinem Begehr.
"Wer ist der Herr der Karawane?" fragte der Reiter.
"Sie gehört nicht einem Herrn", antwortete der Gefragte, "sondern es
sind mehrere Kaufleute, die von Mekka in ihre Heimat ziehen und die
wir durch die Wüste geleiten, weil oft allerlei Gesindel die
Reisenden beunruhigt."
"So führt mich zu den Kaufleuten", begehrte der Fremde.
"Das kann jetzt nicht geschehen", antwortete der Führer, "weil wir
ohne Aufenthalt weiterziehen müssen und die Kaufleute wenigstens eine
Viertelstunde weiter hinten sind; wollt Ihr aber mit mir weiterreiten,
bis wir lagern, um Mittagsruhe zu halten, so werde ich Eurem Wunsch
willfahren."
Der Fremde sagte hierauf nichts; er zog eine lange Pfeife, die er am
Sattel festgebunden hatte, hervor und fing an in großen Zügen zu
rauchen, indem er neben dem Anführer des Vortrabs weiterritt. Dieser
wußte nicht, was er aus dem Fremden machen sollte; er wagte es nicht,
ihn geradezu nach seinem Namen zu fragen, und so künstlich er auch
ein Gespräch anzuknüpfen suchte, der Fremde hatte auf das: "Ihr
raucht da einen guten Tabak", oder: "Euer Rapp' hat einen braven
Schritt", immer nur mit einem kurzen "Ja, ja!" geantwortet.
Endlich waren sie auf dem Platz angekommen, wo man Mittagsruhe halten
wollte. Der Anführer hatte seine Leute als Wachen aufgestellt; er
selbst hielt mit dem Fremden, um die Karawane herankommen zu lassen.
Dreißig Kamele, schwer beladen, zogen vorüber, von bewaffneten
Führern geleitet. Nach diesen kamen auf schönen Pferden die fünf
Kaufleute, denen die Karawane gehörte. Es waren meistens Männer von
vorgerücktem Alter, ernst und gesetzt aussehend, nur einer schien
viel jünger als die übrigen, wie auch froher und lebhafter. Eine
große Anzahl Kamele und Packpferde schloß den Zug.
Man hatte Zelte aufgeschlagen und die Kamele und Pferde rings
umhergestellt. In der Mitte war ein großes Zelt von blauem
Seidenzeug. Dorthin führte der Anführer der Wache den Fremden. Als
sie durch den Vorhang des Zeltes getreten waren, sahen sie die fünf
Kaufleute auf goldgewirkten Polstern sitzen; schwarze Sklaven
reichten ihnen Speise und Getränke. "Wen bringt Ihr uns da?" rief
der junge Kaufmann dem Führer zu.
Ehe noch der Führer antworten konnte, sprach der Fremde: "Ich heiße
Selim Baruch und bin aus Bagdad; ich wurde auf einer Reise nach Mekka
von einer Räuberhorde gefangen und habe mich vor drei Tagen heimlich
aus der Gefangenschaft befreit. Der große Prophet ließ mich die
Glocken eurer Karawane in weiter Ferne hören, und so kam ich bei euch
an. Erlaubet mir, daß ich in eurer Gesellschaft reise! Ihr werdet
euren Schutz keinem Unwürdigen schenken, und so ihr nach Bagdad
kommet, werde ich eure Güte reichlich belohnen denn ich bin der Neffe
des Großwesirs."
Der älteste der Kaufleute nahm das Wort: "Selim Baruch", sprach er,
"sei willkommen in unserem Schatten. Es macht uns Freude, dir
beizustehen; vor allem aber setze dich und iß und trinke mit uns."
Selim Baruch setzte sich zu den Kaufleuten und aß und trank mit ihnen.
Nach dem Essen räumten die Sklaven die Geschirre hinweg und
brachten lange Pfeifen und türkischen Sorbet. Die Kaufleute saßen
lange schweigend, indem sie die bläulichen Rauchwolken vor sich
hinbliesen und zusahen, wie sie sich ringelten und verzogen und
endlich in die Luft verschwebten. Der junge Kaufmann brach endlich
das Stillschweigen: "So sitzen wir seit drei Tagen", sprach er, "zu
Pferd und am Tisch, ohne uns durch etwas die Zeit zu vertreiben. Ich
verspüre gewaltig Langeweile, denn ich bin gewohnt, nach Tisch Tänzer
zu sehen oder Gesang und Musik zu hören. Wißt ihr gar nichts, meine
Freunde, das uns die Zeit vertreibt?"
Die vier älteren Kaufleute rauchten fort und schienen ernsthaft
nachzusinnen, der Fremde aber sprach: "Wenn es mir erlaubt ist, will
ich euch einen Vorschlag machen. Ich meine, auf jedem Lagerplatz
könnte einer von uns den anderen etwas erzählen. Dies könnte uns
schon die Zeit vertreiben."
"Selim Baruch, du hast wahr gesprochen", sagte Achmet, der älteste
der Kaufleute, "laßt uns den Vorschlag annehmen."
"Es freut mich, wenn euch der Vorschlag behagt", sprach Selim, "damit
ihr aber sehet, daß ich nichts Unbilliges verlange, so will ich den
Anfang machen."
Vergnügt rückten die fünf Kaufleute näher zusammen und ließen den
Fremden in ihrer Mitte sitzen. Die Sklaven schenkten die Becher
wieder voll, stopften die Pfeifen ihrer Herren frisch und brachten
glühende Kohlen zum Anzünden. Selim aber erfrischte seine Stimme mit
einem tüchtigen Zuge Sorbet, strich den langen Bart über dem Mund weg
und sprach:
"So hört denn die Geschichte vom Kalif Storch."
Als Selim Baruch seine Geschichte beendet hatte, bezeugten sich die
Kaufleute sehr zufrieden damit. "Wahrhaftig, der Nachmittag ist uns
vergangen, ohne daß wir merkten wie!" sagte einer derselben, indem er
die Decke des Zeltes zurückschlug.
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