Er rieb sich sacht ein wenig die Stirne, wie einer, der nicht recht weiß, wo er sich im Augenblick befindet, bis er sich besann, daß er ja noch höchstens zehn Minuten zu gehen brauche, um die Seinigen zu sehen. Doch wie er sich wandte und den Fuß ansetzte, fiel ihm eine Hand auf die Schulter und eine Stimme fragte:

»Ist das nicht der Martin Salander?«

Er war es wirklich; denn er kehrte sich wie der Blitz um da er auf dem heimischen Boden zum ersten Mal seinen Namen hörte und nun auch das erste bekannte Gesicht erblickte.

»Und du bist der Möni Wighart, wahrhaftig!« rief er. Beide schüttelten sich die Hände, einander aufmerksam, aber nicht unerfreut betrachtend als gute alte Freunde, von denen keiner dem andern etwas zu danken oder je etwas von ihm gewollt hatte. Das ist immer eine gute Begegnung an der Schwelle jeglicher Heimat.

Der genannte Möni oder Salomon schien um zehn Jahre älter als Herr Martin Salander, sah aber noch so frisch und sauber mit seinem Schnurr- und Backenbärtchen aus, wie ehemals, und trug denselben Rohrstock mit vergoldetem Hundekopf, wie vor zwanzig Jahren. Mit allen ordentlichen Leuten stand er auf du und du, obgleich keiner deutlich wußte, seit wann. Trotzdem hatte er nie einen Feind; denn er war für jeden, der ihn traf, ein Ruhepunkt und eine Pause in den Sorgen und Gedanken, die ihn bewegten, oder auch, wenn der Betreffende just zerstreut dahintrieb, ein kommlicher Anhalt zur Sammlung.

»Martin Salander! Wer hätte das gedacht! Und seit wann bist du wieder im Land? Oder kommst du erst?« fragte er abermals.

»Soeben komm ich vom Bahnhof!« war die Antwort.

»Was du sagst! Ich komme doch auch daher, trinke alle Tage meinen Kaffee dort und sehe, wer abgeht und ankommt, und habe dich nicht bemerkt! Der Tausend noch einmal! Soso, da ist der Martin Salander wieder! Nicht wahr, du kommst gradenwegs aus Amerika?«

»Aus Brasilien, das heißt ich habe mich sechs Wochen in Liverpool aufgehalten in etwas Geschäften. Nun aber ist's Zeit, daß ich meine Frau aufsuche, habe seit einem halben Jahre keine Nachricht von ihr und meinen drei Kindern, sie müssen mich längst erwarten. Hoffentlich steht es gut mit ihnen!«

»Ja wo sind sie denn? Hier oben auf der Höhe?« Diese Frage tat der alte Freund nur mit halber Sicherheit seiner Stimme, und der andere schien auch etwas betreten, indem er erwiderte:

»Ei freilich, sie hat ja seit Jahren eine kleine Sommerwirtschaft und Fremdenpension auf der Kreuzhalde gepachtet, es kann nicht sehr weit von hier sein!«

Bei sich selbst dachte er: Nun weiß der nichts davon oder tut wenigstens so; ein Zeichen, daß er nicht ein einziges Mal dort war, der ewige Spaziergänger und Schoppenstecher! Es muß also nicht glänzend gehen, und jedenfalls hat die arme Marie keinen vorzüglichen Wein zu verzapfen!

Die kleine Verlegenheit überspringend ergriff Wighart die Hand, welche Salander zum Abschiede bot, und hielt sie fest.

»Ich würde gleich mitkommen; das geht aber natürlich jetzt nicht gut an bei eurem ersten Wiedersehen, da kann man keine Störer und Gaffer brauchen! Allein zehn Schritt von hier, um die Ecke, hat der alte Friedensrichter Hauser im ›roten Mann‹ einen Letztjährigen, der trinkt sich wie Himmelsluft. Ich nehme bei schönem Wetter täglich ein Schöppchen davon. Nun tu ich es nicht anders, Meister Martin, du mußt zum Willkomm eine Flasche mit mir leeren! In einem halben Stündchen, in zwanzig Minuten ist es getan und der Nachmittag ist noch lang! Komm! Mach keine Umstände! Ich will durchaus das erste Glas mit dir trinken und verspreche, dich nicht lang aufzuhalten!«

Martin Salander, dessen Hand der gute alte Freund nicht fahren ließ, sträubte sich ernstlich, vom Verlangen nach Frau und Kindern beseelt, denen er so nahe war; als ein so Weitgereister jedoch, der oft größere Umwege und Aufenthalte vergeblich gemacht und den sieben Jahren seiner Abwesenheit leicht eine Viertelstunde hinzufügen durfte, um der unverhofften Begegnung eine Ehre anzutun, gab er endlich nach. Er wußte zwar, daß es den geselligen Herrn vornehmlich gelüstete, in aller Eile etwas Näheres von seinen Schicksalen zu erfahren und nebst der Ankunft abends als der erste in der Stadt erzählen zu können; aber auch er selbst empfand jetzt plötzlich ein Bedürfnis, über die Dinge in der Heimat von dem stets unterrichteten Manne Vorläufiges zu vernehmen. So wandte er sich denn, statt den Weg in die Kreuzhalde fortzusetzen, mit dem Möni Wighart in anderer Richtung hinweg und folgte diesem nach dem Roten Mann, einem Bauerngute, wo ein alt angesessener reicher Landwirt nebenher sein reingehaltenes Eigengewächs ausschenkte.

Der Platz um den Brunnen war nun gänzlich still und leer; nur in einer Ecke stand noch der Knabe, der auf die Mutter wartete und das jüngste Kind Salanders war, der eben hinweggegangen.

 

II

 

Die beiden Männer hatten in der Tat nicht weit zu gehen, bis sie das hinter Obstbäumen verborgene Haus fanden. Die Wohn- und Gaststube des Wirtes war leer, als sie eintraten; eine Frauensperson, irgendwo beschäftigt, kam auf Wigharts Klopfen herbei.

»Wo haben wir den Herrn Friedensrichter?« fragte er, zugleich eine Flasche Wein bestellend.

»Sie sind alle in den Reben,« gab die Magd zur Antwort, während sie eine weiße Flasche aus dem Schranke nahm, sie ins Wasser des blanken Kupferkessels tauchte, auf welchem ein halbmondförmiger geschuppter Fisch getrieben war, zu beiden Seiten die Namenszüge eines Vorfahren und darunter eine Jahrzahl aus dem achtzehnten Jahrhundert. Jene ging, den Wein frisch im Keller zu holen, indes die Gäste sich an den breiten Nußbaumtisch setzten.

Martin Salander schaute sich um, holte tief Atem und sagte: »Wie ruhig und still ist es hier! Seit sieben Jahren bin ich nicht hinter einem Tisch wie dieser gesessen!«

Durch die Fenster sah man nur Grünes, Apfelbäume, Wiesen und statt der blauen Luft, soweit der Blick zwischen den Stämmen und Ästen den Weg fand, im Hintergrunde den ansteigenden Weinberg, dessen Erde soeben sorgfältig gelockert wurde. Nur hie und da sah man von den gebückten Werkleuten einen Kopf aus dem Laube emportauchen, und man glaubte die sonnige Ferne selbst zu erblicken, in die er hinausschaute.

»Sieben Jahre, bei Gott! Ist es schon so lang, daß du fort bist,« sagte Wighart.

»Und drei Monate!«

Die Magd brachte den Wein und ein paar Schnitte gutes Roggenbrot, und als die Gäste nichts weiter verlangten, ging sie wieder an ihre Arbeit. Wighart schenkte beide Gläser voll.

»Also sei willkommen!« begrüßte er, mit ihm anstoßend, wiederum den Heimkehrenden, der noch nicht ganz zu Hause war und vor der Zeit die Ruhe kostete; »auf deine Gesundheit! Aber gut siehst du ja schon aus, wirklich wie die Gesundheit selber! Also laß uns annehmen, es sei dir gut gegangen und alles wohl gut gelungen!«

»Auf jede Art ist es mir gegangen; doch habe ich mich gewehrt und getummelt und wenig geschlafen, das kann ich dir sagen, und endlich mich von dem Schlag erholt, der mich damals so schmählich getroffen hat. Es dauerte freilich länger, als ich meinte, daß es gehen würde!«

»Wenn ich nicht irre, so bist du durch eine Bürgschaft ins Unglück gekommen? Ich war zu jener Zeit auf Reisen, und als ich wiederkam, hieß es, du seiest fort.«

»Freilich, die Geschichte mit dem Louis Wohlwend!«

»Richtig! Jeder nahm teil an deinem Mißgeschick, aber allgemein wurde auch gefragt, wie du dein Vermögen durch eine so unbedachte Handlung aufs Spiel setzen konntest?«

»Ich habe nichts aufs Spiel gesetzt, ich wollte nichts gewinnen, sondern einfach ein Gebot der Freundespflicht erfüllen, das heißt – ich glaubte eben nicht, daß es zum Zahlen käme, war vielmehr der Meinung, soviel mir noch vorschwebt, die Suppe würde wohl nicht so heiß gegessen werden, wie sie gekocht sei, und jeder wahre Freundesdienst sei mit einem Wagnis verbunden, sonst wäre es keiner. Wir waren im Lehrerseminar schon gute Freunde. Er lernte schwer und hielt sich deshalb an mich, dem es leichter ging; vor den anderen schien es eher, als ob ich von ihm lernte, Gott weiß, wie es zuging! Es machte mir jedoch Spaß, denn er war sehr drollig, zutraulich und gescheit, und wo zwei beieinander standen, trat er hinzu, selbst unter den Lehrern und Professoren. Mit diesen wußte er sich sehr ergötzlich zu benehmen, wenn die Jahresprüfungen dawaren. Er forschte nicht etwa, worüber sie ihn besonders fragen würden, sondern wußte ihnen geradezu beizubringen, was er wollte, das sie ihn fragen sollten, worauf er sich die bezüglichen Gegenstände extra von mir eintrichtern ließ oder wie ich es nennen soll. Es war, wie wenn er eine Gabe hätte, die Gedanken der Menschen mit wenig Wörtchen zu reihen, hin und her gehen zu lassen und aufzulösen, und doch war er nicht imstande, selbst eine dauernde Gedankenordnung festzuhalten. Aber alles war, wie gesagt, spaßhaft, und jeder ließ ihn gewähren. Er erhielt auch richtig die Verweserei einer ländlichen Elementarschule, wo es herrlich und in Freuden ging; als er aber Realklassen übernahm, d.h. den Unterricht der größeren Kinder, begann er bald von Ort zu Ort zu rutschen und gab in kurzer Zeit das Schulmeistern auf. Ich hatte mich indessen noch zum Sekundarlehrer ausgebildet und ordentlich Fleiß darauf verwendet; auch verwaltete ich die Schule, an die ich gewählt wurde, nicht allein mit der üblichen Begeisterung, sondern auch mit einigem Pflichtgefühl und bemühte mich redlich, die Schüler so durchgehend als möglich emporzuarbeiten. Ich freute mich schon der späteren Tage, wo ich manchem Landmann zu begegnen hoffte, der es mir danken würde, wenn er eine richtige Berechnung anstellen, ein Stück Feld ausmessen, seine Zeitung besser verstehen und etwa ein französisches Buch lesen könnte, alles ohne die Hand vom Pfluge zu lassen! Allerdings hab ich es nicht erlebt; denn die Buben schwanden einem vorweg aus den Augen und verkrochen sich in alle möglichen Schreibstuben. Keinen sah ich je wieder auf dem Feld und an der Sonne!«

Salander hielt inne und besann sich; dann tat er einen leichten Seufzer und redete weiter:

»Aber hab ich es denn besser gemacht? Bin ich nicht selbst vom Pfluge weggelaufen?«

»Du meinst, als du den Lehrerberuf aufgabst?« sagte Wighart, da der andere ein Weilchen wieder verstummte; »wie bist du denn dazu gekommen?«

Vater und Mutter starben mir in der Heimat in derselben Woche an einem bösartigen Fieber. Im Stall war ihnen ein krankes Kälbchen zugrunde gegangen, das haben sie oberhalb des Hauses in der Wiese vergraben, unfern unserer guten Brunnenquelle, und sich so das Wasser in aller Unschuld vergiftet. Knecht und Magd entrannen dem Tode mit Not.