Die Ursache ward erst später entdeckt. Mir aber wandelten sich Schreck und Trauer bald in eine große Unruhe, als ich mich im Besitze des elterlichen Vermögens sah, das nach dem Verkaufe des Hofes für einen Schulmeister artig genug ausfiel. Ich heiratete meine Frau, die mir schon länger in die Augen gestochen, und auch sie besaß bare Mittel. Da wurde es mir plötzlich zu eng in der friedlichen Schulstube, in der entlegenen Landschaft; ich zog hierher, in die Stadt dort hinter den Bäumen, wollte mitten im Verkehr stehen, unter Erwachsenen, auf Freiheit und Fortschritt ausschauen, ein Geschäftsmann, ein Muster von Brotherrn sein, ja sogar noch den Militärdienst nachholen und Offizier werden, um meinen Mann zu stellen. Denn ich glaubte alles schuldig zu sein, weil ich etwas Vermögen besaß, das im Grunde doch kein Reichtum zu nennen war.
Zunächst beteiligte ich mich an einer bescheidenen Gewebefabrik, die von einem kundigen Manne geleitet wurde; daneben übernahm ich einen herrenlosen Handel mit Strohwaren; nun, das ist dir ja bekannt, es ging gar nicht übel. Ich hielt mich fleißig und aufmerksam an die Sache, ohne der Welt den Rücken zu kehren. Da war denn auch der Louis Wohlwend; der betrieb ein Kommissionsgeschäft, wie du auch weißt, nebst einigen Agenturen und war immer noch der gleiche zutuliche und vertrauliche Gesell und Hans in allen Gassen, von dem jeder den Eindruck empfing, daß es ihm gut gehe und er wohl wisse, was er wolle. Auch zu mir hielt er sich fleißig, sooft er Zeit fand, und bald stand ich im Rufe seines Spezialfreundes und wehrte mich nicht dagegen, obschon mir im stillen manches auffällig war, was ihm anhaftete. In einem Gesangverein, in den er mich einführte, bemerkte ich, daß er immer falsch sang; ich dachte aber, er könne nichts dafür, und nachher beim Glase Wein war er umso kurzweiliger und beliebter, und er behauptete sich, trotzdem der Übelstand offenkundig, im zweiten Tenor. Das ärgerte mich zuletzt ernstlich; er tat aber, als ob er keine Ahnung hätte, und am Ende sagte ich mir, das sei eigentlich auch ein Idealismus, wenn ein armer Teufel, der kein Gehör habe, durchaus singen wolle.
Als ich eines Abends in der Weihnachtswoche an meinem Rechnungsabschluß saß mit dem Vorsatze, bis nach Mitternacht zu arbeiten, kam er, mich in seinen Verein abzuholen, wo Christbaum und Hauptvergnügen sei. Ich wollte nicht mitgehen; er gab nicht nach, und da meine Frau mich ebenfalls zu gehen bat, mir die Erholung gönnend, tat ich es. Dies war der Unglückstag.
Unterwegs kaufte ich zum Überflusse auch noch eine Gabe für den Christbaum, ein artiges Bildungsbuch in Goldschnitt, und erhielt bei der Verlosung dafür einen westfälischen Schinken. Als das Essen, das folgte, vorüber und die Rennbahn für die komischen Sänger, die Deklamanten und Travestanten eröffnet war, bestieg auch Louis Wohlwend das Podium, den Vortrag der Schillerschen Ballade ›Die Bürgschaft‹ ankündigend und sogleich beginnend. Er wußte das Gedicht zu meiner Verwunderung auswendig und trug es mit einer gewissen Erregung oder Überzeugung, mit halb zitternder Stimme vor, aber mit durchgehend so verflucht falscher Betonung, daß die Wirkung mehr verdrießlich als lächerlich war. Unbewußt sprach er in jenem Tone ungebildeter Leute, welche klagend oder keifend ein Schriftstück vorlesen, dabei auf den Tisch klopfen und aus Leidenschaft die Rede verzerren, die Worte auseinanderdehnen und wie aus Wut die Nebensilben beschreien, da ihnen die Hauptsilben nicht ausreichen. Gleich den Schluß der erstem Strophe gab er mit steigenden Noten so:
Die Stadt vom Tyrannen befreien:
Das sollst du am Kreuze bereuen!
Dann schloß er die zweite Strophe:
Ich lasse den Freund dir als Bürgen,
Ihn magst du, entrinn ich, erwürgen.
Ganz heillos klang es, wie er fortfuhr:
Da lächelt der König mit arger List,
und dazu wirklich ein Lächeln und eine arge Gesinnung auf seinem Gesichte zu mischen suchte. Das Ende des Gedichtes klang dagegen gemütlich aus:
Ich sei, gewährt mir die Bitte,
In eurem Bunde der dritte.
Es sind jetzt sieben Jahre her und die Dummheiten mir dennoch so genau im Gedächtnis, als wären sie gestern abend geschehen.
Ich war etwas verstimmt, als Wohlwend, von seinem erhöhten Aufenthalte heruntergestiegen, sich wieder neben mich setzte, und da es bereits auf Mitternacht ging, erhob ich mich, um Hut und Mantel zu suchen, und begab mich hinweg. Kaum war ich aber auf der Straße, so holte er mich ein, lief neben mir her, räusperte sich, als wolle er ein neues Stück rezitieren. Ihn unterbrechend, fragte ich, was er für eine Freude daran finde, ein Gedicht, überhaupt eine Rede, so schlecht herzusagen, so aufgeregt und zugleich so grundfalsch zu deklamieren?
Ja, antwortete er mit immer noch nachzitternder Stimme, aufgeregt sei er, und schön werde er allerdings nicht deklamiert haben, weil er selbst derjenige sei, der den Bürgen suche, und auf einem kritischen Wendepunkt schwebe.
Mit ganz veränderter, ganz vernünftiger Stimme gab er unverweilt seine Angelegenheit kund. Er hatte eine folgenreiche Unternehmung gewagt, welche bedeutenden Kapitaleinsatz verlangte, während sein Bankkredit durch das laufende Geschäft schon vollständig in Anspruch genommen war und ferner genommen wurde. Auf keiner Seite durfte er rückwärts gehen ohne Schaden an Gut und Ehre; das Vorschreiten aber konnte beides nur mehren; kurz, es handelte sich um Öffnung eines neuen Kredits gegen Bürgschaft, die mit drei Unterschriften zu leisten war. In fünfzehn Minuten hatte ich als solidarischer Bürge und Selbstzahler die erste Unterschrift auf ein in Wohlwends Hause bereitliegendes Dokument gesetzt und ging gleich darauf schlafen. Die zwei anderen Unterzeichner habe ich nie gesehen; es waren ein paar stille ordentliche Männer und Nichtzahler, welche sich vor der Katastrophe ruhesam verzogen, nicht ohne ihrerseits selbst verschiedene Bürgen oder deren Gläubiger geschädigt zu haben, insofern solche wirklich etwa bezahlten.
»Gut also, vor Ablauf eines Jahres erklärte Louis Wohlwend sich zahlungsunfähig, und was gleich mit Beginn der Konkursverhandlungen voll und unweigerlich gedeckt werden mußte, war der Betrag meiner Bürgschaftsleistung. Sie fraß auf, was ich und mein Weib besaßen, und zugleich liquidierte sich mein eigenes Geschäft ebenso rasch und reinlich, dank der guten Ordnung, die darin herrschte, und ich konnte gehen, wo ich wollte! Ich war für einmal fertig! Jetzt wäre es Zeit gewesen, in die Schulstube zurückzukehren; aber ach, es lag mir ferne! Wohlwend aber lebte noch Jahr und Tag in und von dem Konkurse, der im Sande verlaufen sein soll, ich weiß nicht auf welche Weise.«
»Aber wie mochtest du dein Frauenvermögen so preisgeben?« unterbrach ihn Wighart, »die Frau konnte es ja nach Gesetz und Recht an sich ziehen!«
»Die Frau wollte nicht,« sagte Salander, »wegen der Zukunft der Kinder, denn ich wäre bankerott geworden. Wir waren jung und glaubten an unsere Zukunft, die wir nicht verderben mochten!«
»Aber warum nahmst du die Familie nicht mit oder holtest sie nachträglich, als es dir gut ging?«
»Weil ich im Vaterlande leben und sterben will, ich bin kein Auswanderer! Und dann hätte ich mich nicht drehen und tummeln können, wie ich tun mußte; hatte auch zweimal das Fieber und bezahlte sonst genug Lehrgeld, fing wiederholt von vorn an. Als ich hinüberging, nahm ich einige Kisten Strohhüte mit, die man mir anvertraute; etwas leichtere Seiden- und Baumwollsachen bekam ich auch mit, und so machte sich notdürftig ein Anfang, mit dem ich bescheiden am Ufer hinsteuerte, bis ein junger Mensch, den ich zu mir genommen, mich bestahl und durchging, während ich wehrlos im Fieber lag. Notgedrungen trat ich in den Dienst eines größeren Hauses und bereiste die brasilianischen Provinzen mit Kauf und Verkauf. Ich lernte dadurch den dortigen Binnenhandel, den ich in der Folge auf eigene Rechnung betrieb, natürlich nach Verhältnis meiner Mittel. Nun, ich bin jetzt durch und habe den Schaden ersetzt, mehr wollte ich nicht, und kann die Arbeit hier bei den Meinigen und in meinem Lande wieder aufnehmen. Hier habe ich Mosen und die Propheten!«
Er schlug auf seine trefflich gearbeitete Reisetasche, rief jedoch, sich endlich besinnend:
»Sieh einmal, das ist eine schöne Heimreise! Sechs Wochen in Liverpool, und hier, fünf Minuten von der Frau, bleib ich noch hangen! Trink die Flasche allein fertig, Freund, du wirst wohl noch sitzenbleiben! Der grüne Schattenwinkel hier ist wirklich zu gelungen!« Der alte Freund hingegen, auf die Tasche deutend, hielt ihn auf.
»Du hast gewiß«, sagte Wighart, »gute Papiere bei dir? Solltest du etwa das eine oder andere schöne Inhaberstück abgeben wollen, so bitte ich, mir die Gelegenheit zu gönnen, du weißt, man hat in diesen papiernen Zeitläuften immer etwas zu versorgen oder besserzustellen!«
»Nichts Derartiges ist da!« versetzte Salander; »in der letzten Zeit ließ ich alles Erworbene bei der Atlantischen Uferbank in Rio de Janeiro zusammenlaufen, einem kräftig sich entwickelnden jungen Institut, und trage nun den Wert meiner nicht ganz drei Dutzend Contos de Reis in einer Anweisung bei mir, bar zehn Tage nach Sicht!«
Abermals schlug er vergnügt auf die Tasche.
»Donnerwetter, ein saftiger Wechsel!« meinte Wighart.
»Seit zwei Monaten oder länger avisiert, wie ich denke!« der andere.
»Bei welchem Hause? Gewiß beim großen Kasten? Oder der alten Kommode? Oder bei der neuen Kommode? Das sind nämlich die neusten Scherznamen unserer Banken.«
»Xaverius Schadenmüller & Comp.
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