Julians Sitz lag im Osten in der großen Dorfschaft Lindenberg; die weit zerstreuten Häuser zogen sich um den Fuß des Berges herum, die neue Kanzlei aber glänzte weiß von der Höhe ins Land hinaus. Isidor hatte zur Residenz die Kirchgemeinde Unterlaub gewählt, und das kleine, aber zierliche Landhaus, das er bezogen, war ebenfalls auf einer anmutigen, aus grünem Buchengehölz ragenden Erdbrust gelegen, wo es »im Lautenspiel« hieß. Wenn die Eltern Weidelich zu einer gewissen Jahreszeit des Abends, bei schönem Wetter, die Anhöhen über dem Zeisighofe bestiegen, so konnten sie in der Ferne die weißen Mauern und die Fenster beider Häuser im Scheine der niedergehenden Sonne schimmern und funkeln sehen.
Aber nicht nur das Himmelslicht, auch die Gunst der Menschen schien die glückseligen Wohnungen und ihre Eigner zu verklären; denn als wiederum eine kleine Zeit verstrichen, starb in Isidors Gegend ein altes Mitglied des Großen Rates und nahm in Julians Revier ein anderes, durch Verhältnisse genötigt, seinen Austritt. Die Altliberalen, über den Verlust ihres alten Genossen betrübt, wollten es auch einmal mit jungem Holze versuchen und hoben den jungen Notar im Lautenspiel auf den Schild; die Demokraten im Osten holten schon seines großen Hutes wegen den Julian vom Lindenberg herunter; denn dieser Hut, als ein unverhohlenes Zeichen der Gesinnung, bildete einen trefflichen Gegensatz zu dem gescheitelten Haar und dem glatten Gesicht Isidors und eine Herausforderung aller Andersgesinnten überhaupt.
Sie wurden zur nächsten Versammlung des zweihundertköpfigen Rates einberufen und, nachdem die Wahlen anerkannt, zum Handgelübde in den Saal geführt; schon vor der Sitzung hatten sie unter Anleitung des Weibels sich die Plätze ihrer Vorgänger gesucht und nahmen nach vollzogener kurzer Handlung dieselben ein.
Als sie nun dasaßen, der eine hier, der andere dort, waren beide gleichmäßig still und doch unaufmerksam, so daß sie kaum wußten, was jetzt verhandelt wurde. Nach und nach fiel es ihnen ein, daß sie gedruckte Sachen in einem Umschlag mit sich führten, neue Vorlagen wurden ausgeteilt, sie vertieften sich blätternd darein und erwischten auch den Faden, an welchem die Beratung eines Gesetzentwurfes sich hinspann. Aber schon bei der ersten Abstimmung, die im Laufe des Morgens stattfand, fehlten sie im Saale, da sie ihren guten Bekannten gefolgt, die ihnen gewunken, und mit denselben zum Frühstücke in eine Schenke gelaufen waren. Es konnte wegen Unvollzähligkeit überhaupt nicht abgestimmt und mußten die Weibel ausgesandt werden, aus den umliegenden Wirtschaften die Abwesenden herbeizuholen, während der ernstere und an Ausdauer mehr gewöhnte Teil der Senatoren, der auf dem Rathause saß, irgendeinen Bericht anhörte. In den ihnen wohlbekannten dunkeln, von Geräusch erfüllten Zechstuben stellten sich die Weibel unter die Türen und ersuchten mit lauten Ausruferstimmen die hochgeachteten Herren, zur Abstimmung zu kommen. Mit einigem Tumult erhoben sich die eifrigen Frühstücker und kamen, die Zwillinge mitten unter ihnen, eilig in einer dichten Wolke durch die uralte Türe hereingeströmt.
Isidor und Julian fanden die Sache lustig und kamen mit lachenden Gesichtern, während der verdrießliche Präsident auf dem Hochsitze zum ersten Vizepräsidenten neben ihm sagte: »Das geht ja bald wie in einer Schule, wenn man die Knaben hineintreibt!«
Es wurde mit dem Entwurf fortgefahren, wollte aber nicht recht klecken, weshalb der Präsident vorschlug, abzubrechen und eine Nachmittagssitzung zu halten. Das beliebte der Versammlung und verschaffte den zwei jüngsten Mitgliedern ein neues Vergnügen, indem sie, jeder unter einer Schar seiner Gesinnungsgenossen, zum Mittagessen ins Gasthaus wanderten. Dort tauten sie vollständig auf, beim Kartenspiel um den schwarzen Kaffee die Weihe der Ebenbürtigkeit erwerbend.
Als man nach zwei Stunden in die Ratssitzung zurückkehrte, fühlten sie sich schon wie zu Hause. Sie begannen an diesem ersten Tage die äußerlichen Gewohnheiten älterer Stammgäste und vielbeschäftigter Männer nachzuahmen, Julian verließ seine Bank, um sich an einen Tisch zu setzen, welcher mit Schreibmaterial bedeckt in der Mitte des Saales stand. Einen Vorrat klein geschnittener Blätter nicht beachtend, löste Julian von einem Buche des schönsten Papiers einen großen Bogen ab, schlug ihn auseinander und statt ein Falzbein zu gebrauchen, riß er ihn aus freier Hand, um seine Kanzlistenkünste zu zeigen, mit einem Zuge mitten durch, allerdings schnurgerade.
»Ratsch!« machte der Herr Präsident, dem der schrille Laut in den Ohren weh tat, gegen seinen Nachbar, »diesen Vergeuder möchte ich nie zum Finanzminister machen! Wie er nur mit dem schönen Papier umgeht, das ihn nichts kostet!«
Julian aber fuhr fort, die Stücke entzweizureißen, bis er endlich eines passend fand, darauf zu schreiben, die Feder eintauchte, nachdenklich zur Saaldecke emporschaute und dann anfing, etwas zu schreiben, zuweilen ein wenig aufhorchend, um den Gang der Beratung nicht außer acht zu lassen. Zuletzt drehte er sich auf seinem Stuhle nach dem Redner hin, lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander und schien, die Feder hinter dem Ohre, aufmerksam, ja gespannt zuzuhören. Dann schrieb er weiter, sandelte endlich, las das Geschriebene, faltete es zusammen und schritt nach seinem Platze zurück.
Bald darauf begab sich Isidor an den Tisch, wo er ein Bögelchen Postpapier nahm und mit fliegender Hand einen Brief schrieb. Die Unterschrift aber vollzog er langsam und nachdrücklich, bis er plötzlich die Faust in eine kreisende Bewegung versetzte, die eine Weile in der Luft spielte, ehe sie sich auf das Papier niederließ und eine Wolke von kraus durcheinandergeringelten Federzügen auf und um den Namen kritzelte. Schließlich spritzte er geschickt drei Tupfen dazwischen, zur Erbauung der Leute, die ihm von der Galerie herab zuschauten. Dann faltete er den Brief, tat denselben in ein Kuvert und schrieb die Adresse, streckte den Federhalter empor und winkte dem Weibel, der aufmerksam auf seinem Posten stand. Diensteifrig eilte der auf seinen Zehen herbei, den silbernen Schild an drei Kettlein vor der Brust, nahm den Brief in Empfang und legte ihn mit einer Oblate unter die an den Tisch befestigte Siegelpresse, das kleinere Staatswappen daraufdrückend, worauf er ihn hinaustrug oder vielmehr durch das mit einem kleinen Türchen versehene Guckloch in der schweren Eichentüre einem der draußen stehenden Läufer hinausbot. Isidor lehnte indessen ausruhend in seinem Sessel am Tische, mit verschränkten Armen sich das Publikum auf der Galerie betrachtend.
Der Vorsitzende sagte zum Nebenmanne: »Ich wollte wetten, der hat sich gewiß ein halbes Dutzend Frankfurter Bratwürstchen bestellt, die er heut abend mit nach Hause nehmen will!«
»Er kann auch um eine halbe Million Franken für seine Hypothekarklientel geschrieben haben«, erwiderte lachend der Vizepräsident; »Sie scheinen übrigens unserer neusten Ratsjugend nicht sehr gewogen zu sein?«
»Nun, je nachdem! Wenn sie anfangen, zwillingsweise aufzuziehen und sich benehmen wie auf dem Fastnachtstheater oder bei sonst einem Knabensport, so muß ich gestehen – darf ich Sie bitten, mir Ihren Zusatzantrag schriftlich einzureichen!« unterbrach sich der Präsident, als ein Redner sein Votum schloß und sich niedersetzte; »wer begehrt ferner das Wort?«
Diese Nachmittagssitzung dauerte so lang, daß die Herren Volksvertreter nach Schluß derselben sofort die Bahnhöfe aufsuchen mußten, um die Heimat zu erreichen. Denn seit das Ländchen überall von den Schienenwegen durchzogen war, galt es nicht mehr für wohlanständig, die Nacht in der Hauptstadt zuzubringen, während man in einer halben oder ganzen Stunde zu Hause und am Morgen ebenso rasch wieder dasein konnte.
Um nicht nachteilig aufzufallen, sahen sich auch die Brüder Weidelich genötigt, mit den Ratsgenossen nach ihren betreffenden Bezirken zurückzufahren. Es gehörte überdies zum Tageslauf, an den Gesprächen der Heimkehrenden teilzunehmen, wenn auch nur mit den Ohren, und so gewissermaßen bis zum Ende dabeizusein.
An diesem Abend saßen im Zeisig die Eltern der jungen Großräte unwirsch, fast betrübt am Tische. Stolz auf das heutige Ereignis, welches die Gutheißung all ihrer Opfer und Hoffnungen enthielt, hatten sie den ganzen Tag auf den Augenblick geharrt, den die Söhne finden würden, Vater und Mutter aufzusuchen und zu begrüßen. Schon zur Mittagszeit hielten sie kräftige Speise und besseren Trank bereit und zögerten lange vergeblich, bis sie endlich zu essen begannen. Öfter verließen sie ihre Geschäfte und liefen auf die Straße, in der Hoffnung, die neuen Würdenträger von der nahen Stadt heraufkommen zu sehen. Allein sie kamen nicht.
»Sie werden nicht Zeit finden,« sagte Jakob Weidelich, »sie sind jetzt eben angebunden bei den Geschäften, an allen Enden!«
Als die guten Leute spätabends nochmals hinausgingen und die letzten Bahnzüge in der Ferne durch die Stille rollen und pfeifen hörten, wußten sie, daß sie die Söhne nun nicht mehr sehen würden. Die Frau wischte sich die Augen, was seit undenklichen Zeiten nur geschehen, wenn sie Zwiebeln schälte; es war ihr zumute, als ob die Söhne für immer entschwunden und in ein unbekanntes Land gefahren wären.
»Sie kommen ja morgen wieder,« sagte Jakob, »und übermorgen wahrscheinlich auch!«
»Wer weiß, ob sie dann an uns denken! Es ist mir ums Herz, wie wenn sie uns nichts mehr angingen!«
Die Frau schlich ins Haus zurück, damit niemand ihre Betrübnis bemerke und deren Ursache errate, und der Mann drückte sich nach ein paar Minuten auch hinein. Sie tranken zusammen von dem besseren Wein, den sie für die Söhne bereitgehalten.
»Und warum brauchen sie denn alle Tage hin- und herzufahren wie die Maulaffen?« schalt die Mutter, »da sie ja so bequem bei uns übernachten könnten und kein Geld ausgeben müßten?«
»Das verstehst du nicht! Sie haben doch in ihren Kanzleien nachzusehen, was vorgegangen ist; und morgens früh, eh sie weggehen, weisen sie den Schreibergesellen die Arbeit an. Das macht sich auch besser, als wenn sie sich drei oder vier Tage lang nicht blicken ließen! Zu was hat man alle die Eisenbahnen, für die sich die Gemeinden und der Staat so überschuldet haben? Das kommt ihnen jetzt zugute, sie können den Tag über prächtig hier im Rathaus sitzen und am Abend wie am Morgen früh doch ein paar Stunden zu Haus arbeiten! Denn sie haben eine große Verantwortlichkeit!«
Auch in Martin Salanders Wohnung war der Tag nicht ohne seltsame Spuren vorübergegangen. Als die Familie beim Mittagsmahle vereinigt saß, zog er eine Zeitung aus der Tasche, die um eilf Uhr ausgegeben worden.
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