Wer dafür stimmt, daß derselbe an nächstfolgender Stelle auf die Liste gesetzt und dem Volke im Namen der gegenwärtigen Versammlung zur Wahl empfohlen werde, der beliebe die Hand zu erheben!«
Mit Ausnahme weniger Lücken, die fast nicht bemerklich waren, erhoben sich alle Hände mit einem beifälligen Geräusch, welches bewies, daß. Salanders Wahl den anwesenden Bürgern an sich als erwünscht erschien.
Der so gut wie gewählte Mann befand sich in verdrießlicher Aufregung. Den geheimen Wunsch im Herzen, den ihm wohl gebührenden Sitz im Rate endlich einzunehmen, sah er sich denselben durch das kecke und verfrühte Eingreifen der Zwillinge zugewendet und zugleich durch die unhöflichen Umständlichkeiten des Vorsitzenden das Abstimmen aufgehalten, ein Zusammentreffen, das ihm nur unwillkommen sein konnte. Erwägend, daß er die Wahlbewerbung unter solchen Umständen nicht übernehmen und die Ratsstelle namentlich nicht den Zwillingen verdanken dürfe, hatte er in der Zerstreuung den rechten Augenblick entschiedener Einsprache versäumt und war so unruhig und verlegen, daß er sein Schöppchen, das unberührt stand, in lauter kleinen Schlücken beinah ausgetrunken hatte, als der Vorsitzende das günstige Ergebnis mit einer gewissen Feierlichkeit bestätigte und im Geschäfte fortfahren wollte. Er dankte für das ehrende Zutrauen, erklärte aber, die Kandidatur aus Gründen ablehnen zu müssen, die er hier nicht auseinandersetzen könne, und bat mit sehr bestimmten Worten um Vornahme einer neuen Wahl. Jetzt erst machten sich zwei ältere Männer geltend, um ihn zur Umkehr zu bewegen. Diesen war er im Herzen wahrhaft dankbar; allein er blieb fest in seinem Entschlusse, und so nahm das Geschäft seinen weiteren Verlauf, bis es mit den üblichen Zwischenfällen und unvorhergesehenen Wendungen zu Ende geriet.
Auch der Vorsitzende, mit Salander in ähnlicher Lage geheimen Wunsches, wurde beim Aufstellen neuer Kandidaturen auf Martins Vorschlag gewählt, womit dieser seine Bürgerpflicht ruhig erfüllte, weil er jenen als einen tüchtigen Mann kannte.
Auf dem Heimwege hatte er sehr widersprechende Gefühle zu überwinden. Ein, wie er glaubte, ihm zu fernerem Wirken notwendiges Amt mußte er fahren lassen, weil er es nicht aus den Händen derjenigen empfangen durfte, die es wie aus dem Ärmel geschüttelt ihm schenkten. Was würde Frau Marie dazu gesagt haben, wenn es hieß, die Weidelichs hätten ihn öffentlich ausgerufen! Und doch, sosehr er sich über die Schlingel, wie er sie nannte, ärgerte, empfand er widerwillig einen Schimmer von Wohlwollen für sie und den mißlungenen Streich, den sie ihm gespielt. Dann schämte er sich, das erstemal, wo er nach mehrjähriger Tätigkeit auf die Schwelle des Rathauses getreten, in einen so kleinen Fallstrick geraten zu sein und sich zudem gestehen zu müssen, es gebreche ihm an der derben Rücksichtslosigkeit, welche zum rüstigen Vorgehen auf politischer Laufbahn unentbehrlich sei.
Schließlich ward er doch mit seiner Handlungsweise zufrieden, da er die Folgen, alle die weiteren Anforderungen bedachte, wenn der Pfad des amtlichen Lebens einmal beschritten war. »Nein«, sagte er, »das Bewußtsein, von den zwei Bürschchen auf den Schild gehoben zu sein, wäre mir überall nachgelaufen, und gewiß hätten sie selbst sich sehr unbequem an meine Füße geheftet! Und was heut nicht geschieht, kann ja in glücklicherer Stunde besser geschehen!«
Für sein Verhalten erntete er auch den schönsten Lohn, als er das Erlebnis der Frau erzählte und sie ihn höchlich darum belobte. Er hatte sie in zufriedener und weicher Stimmung zu Hause gefunden, weil sie das Entgegenkommen der Töchter als einen Anfang zum Bessern empfand und auslegte, deshalb auch den Abend in freundlichem Vernehmen mit ihnen verlebte, was die Mädchen hinwieder zu ihren Gunsten deuteten, als sie zu Bett gingen.
Die Urheber all dieser Gemütswirrnisse, Julian und Isidor, steckten nach der Versammlung in einem Bierhause der Stadt die Köpfe zusammen.
»Das ist uns nun schlecht gelungen mit dem verhofften Schwiegerherrn!« vermeinte der eine von ihnen.
»Was den Alten unserer teuren Schätze betrifft, so glaube ich, er rechnet uns den guten Willen an bei Gelegenheit, und übelgenommen hat er es gewiß nicht!« erwiderte der andere; »aber sonst ist unser Auftreten ja vollkommen gelungen, er wurde ja so gut wie einmütig gewählt!«
»Freilich, ja, wer hätte gedacht, daß wir zwei das erste Mal schon, so wir in eine politische Versammlung gehen, einen Ratsherrn machen würden?«
»Das sag ich auch, ein guter Anfang! Anstich, trink! Das müssen wir fortsetzen! Wenn wir mit folgendem Erfolg ferner politisieren, so wird uns das sehr fördersam sein! Mein Chef sagt, er wolle dies Jahr noch abgehen; ich muß jetzt schon fast alles machen!«
»Und meiner wird nicht mehr gewählt, sehr wahrscheinlich, wenn seine Amtsdauer abläuft.«
»Da kannst du gleich schon jetzt vorarbeiten in deinem Kreise! Trink deinen Rest!«
»Es gilt deinen Anstich! Hör einmal, was mir neulich eingefallen ist, ich wollt es mir reiflicher überlegen!«
»Los damit!«
»Ich kalkuliere, es wäre nützlich, wenn wir zwei nicht zu der nämlichen Partei gehen würden, da könnten wir uns besser in die Hände arbeiten! Es kommt das öfter in Familien vor, daß der eine Bruder grau, der andere schwarz, der dritte rot ist, und alle stehen sich gut dabei; einer macht dem andern Freunde, indem er mit Liebe von ihm spricht und ihn empfiehlt!«
»Das leuchtet mir ein! Wahrhaftig, je deutlicher ich's denke! Du Himmelhund! Aber wie sollen wir den Kuchen teilen? Hast du eine bestimmte Vorliebe, ein Prinzip?«
»Ich? Noch nicht, das werden wir später mit der Erfahrung erwerben, wenn es unerläßlich ist! Aber für jetzt ist es mir gleichgültig, welches Lied ich pfeife; man braucht überhaupt nicht immer zu schwatzen, wenn man nicht bei der Sache ist!«
»'s kommt dir ein Quart!«
»Trink und Anstich!«
»Sieh, so denk ich gerade! Nur einen Haken hat die Sache, den flotten oder minder flotten Klang des Namens! Jetzt sind die Demokraten oben und gelten für schneidig; die Altliberalen werden schon von ihnen Zöpfe genannt. Konservativ wäre dem Ohr genehmer, aber das Simpelvolk braucht den Ausdruck nicht!«
»Da ist etwas dran! Schon das Wort altliberal oder altfreisinnig gleicht einer Nachtmütze!«
»Und doch, auf der andern Seite fängt der Begriff Demokrat an zu brenzeln! Und ein Notar hat es hauptsächlich mit dem Kapital zu tun!«
»Jawohl, aber du vergissest, daß auch die verschuldeten Bauern, die Debitoren und Konkursiten, arme Leute aller Art, mit dem Notar zu tun haben, das muß man dir ja nicht sagen! Und diese haben bei den Notarwahlen die Mehrheit, wie anderwärts!«
»Auch wieder wahr! Hör jetzt, da Vorteil und Nachteil sich so gleichmäßig gegenüberstehen, so schlag ich vor, die Parteien unter uns auszuwürfeln!«
»Kellnerin, den Würfelbecher!«
Als das Geräte da war, ergriff es Julian und schüttelte es.
»Wie soll es nun gelten? Ich denke, wir schließen alle Nebenparteien aus und spielen nur um die zwei Hauptlager!«
»Also Demokrat oder Altliberaler! Da reicht ein Wurf hin; wer die meisten Augen wirft, wird das, was vorher bestimmt wurde, der andere nimmt den andern Namen an.«
»So sagen wir, der Gewinnende wird Demokrat, der Verlierende Altliberaler! Soll es gelten?«
»Fest soll es gelten!«
»Trink vorher den Rest, a tempo, prosit!«
»Drauf los, prosit!«
Julian schüttelte nochmals die drei Würfel und stürzte den Becher auf den Tisch. Es lagen achtzehn Augen, alle drei Sechser.
»Es ist schon fertig!« rief Isidor.
»Nein, du wirfst auch, du kannst ja ebensoviel werfen und dann stechen wir!« sagte der Bruder Julian.
Der andere warf, aber nur dreizehn Augen.
»Prosit Anstich, Herr Demokrat!« rief er und der andere, Julian, rief: »Prosit Anstich, Herr Altliberaler, vulgo Zopfius!«
X
Die Brüder, so einig sie waren, trennten sich nur insofern vor der Welt, als jeder denjenigen Volks- oder Bürgerkreisen nachging, die seinem Parteinamen entsprachen. Da sie noch wenig politischen Verstand und Gedankenvorrat besaßen, so fiel es ihnen nicht schwer, sich mehr durch ihre Anwesenheit als durch Reden bemerklich zu machen und dagegen mit einer den Sprachführern gewidmeten schmeichelhaften Aufmerksamkeit deren Wohlgefallen zu erwerben. Nach und nach erwiesen sie sich nützlich durch vorkommende mindere Schreibarbeiten, die sie bereitwillig besorgten, und durch vertrauliche Mitteilungen aus dem Lager der Gegenpartei, von Absichten und Beschlüssen, drolligen oder nachteiligen Vorfällen, persönlichen Reibungen und dergleichen, was sie einander jeweilig ungesäumt zuraunten. Das gab ihnen unter ihren Leuten dann den Ruf rühriger und gut unterrichteter Politiker, wenn sie vorsichtig und ganz wie beiläufig die Neuigkeit an den Mann brachten. Es ist übrigens anzunehmen, daß der letztere Zug nicht sowohl aus bösartiger Falschheit, als aus dem leichtsinnigen Spiel hervorging, das sie mit dem Parteiwesen trieben. Noch andere, unschuldigere Ränke übten sie fleißig. Wenn sie in eine öffentliche Zusammenkunft, einen Verein oder auch nur sonst ins Wirtshaus gingen, sorgten sie dafür, daß ihnen ab und zu dringliche Geschäftsbriefe und Telegramme aus ihren Kanzleien nachgesandt oder daß sie persönlich hinausgerufen wurden. Das belächelten zwar erfahrene Unterstreber, aber mit Achtung und Wohlwollen. Sie hielten es für etwas durchaus Tüchtiges, quasi Staatsmännisches, und verrieten das ihnen bekannte Geheimnis keineswegs an die Menge.
Die Brüder gediehen auf das beste und gewannen jeder an seinem Orte, täglich an Ansehen und Beliebtheit im Volke. Die sicheren Hoffnungen auf die Ämter ihrer beiden Vorgesetzten erfüllten sich allerdings nicht. Der eine, der hatte abgehen wollen, ward plötzlich eifersüchtig und besann sich anders; derjenige, der nach Ablauf seiner Amtsdauer gestürzt werden sollte, machte verzweifelte Anstrengungen und empfahl sich persönlich in den Häusern der Stimmberechtigten, so daß er mit knapper Mehrheit wieder bestätigt wurde. Sein Substitut Julian, der sich unbefangen beworben, erhielt aber so viel Stimmen, daß er durch die Ziffer schon eine Anwartschaft unter den hervorragenden Kandidaten bekam.
Die zwei jungen Männer säumten unter solchen Umständen nicht länger, sich außerhalb ihrer Notariatskreise umzutun und erworbene Freundschaften zu benutzen, und so währte es nicht zu lange, bis jeder in einer fruchtbaren, wohlhabenden Gegend des Landes zum Notar erwählt worden, Isidor, der Altliberale, im Norden, und Julian, der Demokrat, im Osten von Münsterburg.
Im Zeisig herrschte Freude. Frau Amalie Weidelich rief: »Zwei Landschreiber zu Söhnen!« und der Vater Jakob sagte: »Ja, du hast's erreicht, was die Ehre betrifft! Aber mit dem Einkommen der Notare soll es nicht mehr glänzend stehen! Wir werden noch weiter opfern müssen!«
»Ei, da sorg du nicht!« eiferte die Mutter, »diese Sorte bleibt nicht lang auf dem Fleck stehen!«
»Jedenfalls,« fuhr Jakob Weidelich unbeirrt fort, »braucht jeder alsbald ein Haus, einen anständigen Wohnsitz; denn mit einer Landschreiberei kann man nicht bei Bauersleuten zur Miete wohnen! Das wird auch Geld kosten!«
Die Söhne beruhigten den Vater. Zu einem artigen Haus oder gar einem mäßigen Landgute zu kommen, ergebe sich die vorteilhafteste Gelegenheit aus dem amtlichen Geschäftsleben selbst bei Anlaß von Konkursabsteigerungen, Erbverkäufen und anderen Fällen von Handänderungen, wo ein gewandter Notar, wenn er die Augen auftue und etwas wage, ja zunächst bei der Anrichte stehe.
Vater Weidelich verstand sich nicht recht auf solche Geschäftsläufe; von den alten Landschreibern seines Gedenkens hatte man dergleichen Praxis nicht vernommen; doch war er selber kein Gewinnverächter und fand es schließlich um so besser, wenn hier das biblische Wort gelte: Dem Ochsen, der da drischt, sollst du nicht das Maul verbinden.
Die gute Mutter vermochte kein Wort mehr zu sagen, so gerührt, so betroffen war sie, die Söhne in eigenen Herrenhäusern sitzen zu sehen, weit auseinander im Lande wohnend.
Während die jungen Notare einstweilen noch in den Wohnräumen ihrer Vorgänger die Ämter antraten und verwalteten, suchte gelegentlich jeder in den Ortschaften seines Kreises eine Behausung. Das gab Gelegenheit, sich der angesessenen Wohnerschaft zu zeigen und Leutseligkeiten mit ihr zu tauschen. Um auf der nunmehrigen Laufbahn nicht mehr verwechselt zu werden, hatten sie auch das Äußere so ungleich als möglich gemacht, Julian das üppige Haar kurz gestutzt und ein zartes Schnurrbärtchen gepflanzt, Isidor das Haar mit Pomade glatt gestrichen und gescheitelt; dazu trug jener einen schwarzen Filzhut, breit wie ein Wagenrad, dieser ein Hütlein wie ein Suppenteller.
Das Glück wollte, daß beide in kurzer Zeit Anlaß fanden, ein schönes Grundstück zu billigem Preise an sich zu ziehen und statt der bisherigen Besitzer lediglich den eigenen Namen in die Grundbücher einzutragen. Nachher konnten sie soviel Land davon verkaufen, daß sie beinahe zinsfrei wohnten.
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