Mein Sommer
Seume, Johann Gottfried
Mein Sommer
Johann Gottfried Seume
Mein Sommer
Veritatem sequi et colere, tueri justitiam, aeque
omnibus bene velle ac facere, nil extimescere
Lieber Leser!
Ich war willens, über meine jetzige Ausflucht nach dem Norden nichts zu sagen. Als ich nach Sizilien ging, fühlte ich in mir selbst das Bedürfnis, meinen Zeitgenossen ein kleines Denkmal meines Seins und Wirkens zu geben. Das hatte ich getan und war zufrieden, der Drang war gestillt. Schreibsucht ist, wie alle meine Freunde bezeugen können, nicht meine Krankheit. Mehrere wackere Männer aber, die ich nennen könnte, haben mich aufgefordert, über meine letzte Reise ihnen meine Bemerkungen nach meiner Weise mitzuteilen; das habe ich denn getan. Ich setzte mich hin und nahm das wesentliche aus meinem Taschenbuche; und das Ganze war fertig. Für Leute, welche alles wissen, habe ich nicht geschrieben; ebensowenig als für Leute, welche nichts wissen; für die ersten wäre es viel zuviel, für die letzten viel zuwenig.
Der Druck ist das gewöhnlichste und leichteste Mittel der Vervielfältigung. Ich mache weiter keine Apologie darüber, sondern stelle die Dinge vor, wie ich sie sah. Ich bin mir der reinsten Absichten bewußt, ohne jemand meine Ansicht aufdringen zu wollen. Wenn meine Urteile zuweilen etwas hart sind, so liegt das leider in der Sache, ich wollte, ich hätte überall Gelegenheit gehabt, das Gegenteil zu sagen.
Diesmal habe ich nur den kleinsten Teil zu Fuße gemacht, ungefähr nur hundertundfünfzig Meilen. Lieber wäre es mir und besser gewesen, wenn meine Zeit mir erlaubt hätte, das Ganze abzuwandeln. Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr, als wer fährt. Überfeine und unfeine Leute mögen ihre Glossen darüber machen nach Belieben; es ist mir ziemlich gleichgültig. Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und Selbständigste in dem Manne und bin der Meinung, daß alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge. Man kann fast überall bloß deswegen nicht recht auf die Beine kommen und auf den Beinen bleiben, weil man zuviel fährt. Wer zuviel in dem Wagen sitzt, mit dem kann es nicht ordentlich gehen. Das Gefühl dieser Wahrheit scheint unaustilgbar zu sein. Wenn die Maschine steckenbleibt, sagt man doch noch immer, als ob man recht sehr tätig dabei wäre: »Es will nicht gehen.« Wenn der König ohne allen Gebrauch seiner Füße sich ins Feld bewegen läßt, tut man ihm doch die Ehre an und spricht nicht anders als: »Er geht zur Armee; er geht mit der Armee, nach der Regel a potiori.« Sogar wenn eigentlich nicht mehr vom Gange die Rede sein kann, behält man zur Ehrenbezeigung doch noch immer das wichtige Wort bei und sagt: »Der Admiral geht mit der Flotte und sucht den Feind auf«; und wo die Hoffnung aufhört, spricht man: »Es will nicht mehr gehen«. Wo alles zuviel fährt, geht alles sehr schlecht, man sehe sich nur um! Sowie man im Wagen sitzt, hat man sich sogleich einige Grade von der ursprünglichen Humanität entfernt. Man kann niemand mehr fest und rein ins Angesicht sehen, wie man soll, man tut notwendig zuviel oder zuwenig. Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft. Schon deswegen wünschte ich nur selten zu fahren, und weil ich aus dem Wagen keinem Armen so bequem und freundlich einen Groschen geben kann. Wenn ich nicht mehr zuweilen einem Armen einen Groschen geben kann, so lasse mich das Schicksal nicht länger mehr leben!
Ich war willens, hier eine kleine Abhandlung über den Vorteil und die beste Methode des Fußwandelns zu geben, wozu ich vielleicht ein Recht so gut als irgendein anderer erworben habe; aber meine Seele ist jetzt zu voll von Dingen, die ihr billig wichtiger sind.
Wenn man mir vorwirft, daß dieses Buch zu politisch ist, so ist meine Antwort, daß ich glaube, jedes gute Buch müsse näher oder entfernter politisch sein. Ein Buch, daß dieses nicht ist, ist sehr überflüssig oder gar schlecht. Wenn man das Gegenteil sagt, so hat man seine – nicht guten Ursachen dazu. Politisch ist, was zu dem allgemeinen Wohl etwas beiträgt oder beitragen soll: quod bonum publicum promovet. Was dieses nicht tut, ist eben nicht politisch. Man hat dieses Wort sehr entstellt, verwirrt und herabgewürdigt oder es auch, nicht sehr ehrlich, in einen eigenen Nebel einzuhüllen gesucht, wo es dem ehrlichen, schlichten Manne wie eine gespensterähnliche Schreckgestalt erscheinen soll. Meistenteils gelingt es leider sehr gut.
Wo das Denken gänzlich aufhört, haben die Spitzköpfe ebensosehr gewonnen, als wo das Verkehrtdenken anfängt. Der Mensch braucht durchaus nichts als sich selbst, um Wahrheit zu sehen; nichts als seine eigene Kraft, um ihr zu folgen; und nur seinen eigenen Mut, um dadurch so viel Glückseligkeit zu erlangen, als seine Natur ihm gewähren kann.
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