Die Unternehmungslust des Fürsten sank von neuem, als er von neuem innewurde, daß es sich nicht darum handle, zu erobern, sondern erobert zu werden. Marianne traf er oft in Gesellschaft und ging dann mit stummem und feierlichem Gruße an ihr vorüber. Sie gefiel ihm womöglich noch mehr als im verflossenen Jahre. Was waren alle, deren Besitz ihm so leicht erreichbar gewesen wäre, im Vergleiche zu der einen Unerreichbaren? Konnte man einem hübschen Gesichte Aufmerksamkeit schenken, nachdem man diesen klassischen Kopf gesehen, in Haltung und Form, ja in jedem Zuge dem der Venus von Milo so ähnlich? Konnte man dem Geschwätz eines Backfisches das geringste Interesse abgewinnen, nachdem man die Gräfin einmal sprechen gehört?

Auf einem Balle, dem Klemens und Marianne als Zuschauer beiwohnten, fügte es der Zufall, daß sie im selben Augenblick aus dem Tanzsaale in den luftigeren Raum eines anstoßenden Salons traten. Klemens verneigte sich wie gewöhnlich schweigend, sie dankte freundlich lächelnd, und doch schien ihm, als sei über ihr Gesicht ein Ausdruck leiser Trauer gebreitet, der ihn ergriff und ihm, halb gegen seinen Willen, die Frage erpreßte: »Wie geht es Ihnen, Frau Gräfin?«

Sie antwortete unbefangen, und ein Weilchen später saßen sie nebeneinander auf dem Kanapee, in eifriges Gespräch versunken. Klemens wußte nicht mehr, daß sie ihm schweres Unrecht getan, und als er sich dessen entsann, da hatte sie sich soeben erhoben, reichte ihm die Hand und sagte: »Warum besuchen Sie mich nicht mehr? Ich bin zwischen zwei und drei Uhr nachmittags immer zu Hause.«

Von nun an wäre jeder fehlgegangen, der den Fürsten zu jener Stunde anderswo gesucht hätte als im kleinen braunen Salon Mariannens. Er erschien mit einem Lächeln und entfernte sich mit einem Seufzer auf den Lippen, täglich, den ganzen Winter hindurch. So ging es fort durch zwei, durch – zehn Jahre. Im Frühling reiste er nach seinen Gütern, sie nach den ihren; man sah einander erst im Herbste wieder, denn auf dem Lande liebte es Gräfin Neumark, einsam zu leben, und nahm keine anderen als die unentrinnbaren Besuche ihrer Nachbarn an. Von Zeit zu Zeit erneuerte Klemens seine Werbung und machte die Beobachtung, daß jeder ablehnende Bescheid, den er erhielt, ihn weniger schmerzte. Woran sich doch der Mensch gewöhnt! Es kam so weit, daß Marianne, ohne grausam zu sein, fragen durfte: »Wie ist mir denn? Nun sind anderthalb Jahre vergangen, in denen Sie nicht an meine Versorgung dachten. Ich scheine Ihnen reif geworden zur Selbständigkeit ... Oh, wie muß ich aussehen!«

Sie hatte gut lachen über ihr Alter; fast spurlos war die Zeit an ihr vorübergegangen und hatte ihr kaum einen Vorzug der Jugend geraubt. Ihr ganzes Wesen atmete die Frische, die nur denjenigen Frauen bewahrt bleibt, die niemals große Leidenschaften empfunden, niemals schwere Seelenkämpfe durchgemacht haben und die, einem mehr oder minder unbewußten Selbsterhaltungstriebe folgend, immer da nachzudenken aufhören, wo das Nachdenken anfängt weh zu tun.

Sie ist gut, meinte der Fürst, und doch nicht zu gut, gescheit und doch nicht zu gescheit. – Mit ihr zu verkehren ist eine Wonne. Klemens fühlte das heute wie vor zehn Jahren. Und wenn er auch das Ziel seiner Wünsche nicht erreichte – die besten Stunden seines Lebens hat er hier in diesem kleinen traulichen Gemache, an diesem Kamine zugebracht, an dem er jetzt ihr gegenübersaß und einen Vortrag hielt über seinen Mangel an Beredsamkeit.

Marianne, die Hände übereinandergelegt, hörte ihm scheinbar zu. Sie mußte jedoch einen anderen Gedankengang verfolgt haben, denn plötzlich unterbrach sie seine Rede: »Und Sonnberg?« fragte sie. »Haben Sie ihn heute schon gesehen? Kommt er abends auf den Ball?«

»Wie sollte er nicht?« antwortete Klemens; »er ist ja sicher, Sie und Thekla dort zu finden.«

»Sie gefällt ihm also, meinen Sie?«

»Gefällt?... Er ist entzückt von ihr, hingerissen, über und über verliebt! Verlassen Sie sich auf mich, ich wiederhole es: bevor diese Woche zu Ende geht, ist Thekla seine Braut.«

Marianne war nachdenklich geworden; eine Wolke lag auf ihrer Stirn, als sie nach einer Pause erwiderte: »Ich könnte für sie nichts Besseres wünschen.«

»Ja, der ist's«, meinte Klemens, »der ist's! Ein Schwiegersohn recht nach Ihrem Herzen.«

»Und ein Mann nach Theklas Kopfe«, fügte die Gräfin hinzu.

 

Marianne war bei der Erziehung ihrer Tochter vornehmlich von der Sorge geleitet gewesen, in dem Kinde keine »Sentimentalitäten« und keine »Exaltationen« aufkommen zu lassen. Theklas Verstand sollte ausgebildet und ihre Phantasie gezügelt werden. Wohltätigkeit und Großmut hatte man ihr als Anforderungen ihres Standes hinzustellen. Sie sollte geben lernen, reichlich, mit vollen Händen, niemals jedoch ohne Überlegung, vor allem nie aus einer flüchtigen Wallung des Mitleids. »Wissen Sie warum, liebe Dumesnil?« sagte die Gräfin zu der Gouvernante ihrer Tochter, »weil jede Wohltat mit Undank belohnt wird und weil wir den leichter verschmerzen, wenn unser Gefühl mit der Handlung, die ihn hervorrief, nichts zu tun hatte.«

»Ah madame, à qui le dites-vous?« antwortete Madame Zephirine Dumesnil wie bei jeder Gelegenheit, in welcher ihr der Sinn von Mariannens Reden völlig dunkel blieb.

Madame Dumesnil war eine trockene, auf ihren Vorteil bedachte Französin, die sich gegen alles in der Welt, sogar gegen ihre Pflegebefohlenen, gleichgültig verhielt. Als aber Thekla heranwuchs, geläufig Englisch und Französisch sprach, ein brillantes Salonstück mit Sicherheit und Bravour auf dem Klavier vorzutragen verstand, wie ein Dämon zu Pferde saß, wie ein Engel tanzte und »un port de reine« bekam, da geriet ihre Erzieherin zuzeiten in Ausbrüche einer seltsam kalten, jedes Wort sorgsam abwägenden Bewunderung für die junge Dame.

Plötzlich jedoch wurde sie sparsamer mit ihrem Lobe und dafür verschwenderisch mit leisen Warnungen, die sich samt und sonders auf die Gefahren des Unbestandes bezogen. Die Komtesse, die bisher so manche Stunde des Tages am Klavier zugebracht, hatte nämlich begonnen, ihr musikalisches Talent zu vernachlässigen, und sich mit einer bei ihr ganz unerhörten Leidenschaftlichkeit auf die Malerkunst geworfen. Mit Mühe nur bewog man sie, ihre Staffelei zu verlassen. Freilich bot diese meinstens einen interessanten Anblick dar. Da begraste sich eine magere Kuh auf fetter oder eine fette Kuh auf magerer Weide; da schlich eine Ziege tiefsinnig durch die schauerliche Stille der Einöde, da ragte aus dem Abgrund eine schmale Klippe empor, und auf derselben stand eine Gemse, mit Füßen, zusammengeschoben wie die eines in Ruhe gesetzten Feldsessels.

Sooft Theklas Zeichenmeister erschien, hatte sie ihm ein eben fertiggewordenes Werk vorzuweisen. Herr Krämer warf sich in einen Fauteuil der Staffelei gegenüber, spreizte die Beine auseinander, stützte die Ellbogen auf seine Schenkel und verschränkte die Hände.