»Damit ich sie nicht über dem Kopf zusammenschlagen kann«, sagte er, blickte zuerst zu Thekla und dann zu dem neuentstandenen Kunstwerk empor und fuhr fort, während es gar sonderbar in seinem Gesichte zuckte: »Schau, schau, unser Komtesserl!... Aber was macht denn die Bank mitten auf der ›Straßen‹? Ja so, ein Pferd ist's ... Aha! – Also nur fort so – das heißt: ganz anders ... ich mein halt nur in der Ausdauer; Geduld überwindet Sauerkraut.«

Madame Dumesnil warf ihm einen indignierten Blick zu, Thekla jedoch nahm Palette und Malerstock zur Hand und machte sich mit glühendem Eifer an die Arbeit. Krämer spaßte die ganze Stunde hindurch, ergriff manchmal einen Pinsel, und über die Schulter seiner Jüngerin hinweg verwischte er die Hälfte des Bildes, an dem sie sich mit so großer Emsigkeit abmühte. Sie nahm es nicht übel, erhob keine Einsprache, und Madame Dumesnil, auf solche ihr von Thekla nie erwiesene Unterwürfigkeit eifersüchtig, nahm den Maler »en horreur«.

Da ereignete sich eines schönen Wintermorgens etwas Ungeheures, etwas Unerhörtes. Madame Zephirine stürzte in das Schlafzimmer der Gräfin und legte eine Herrn Krämer gehörende Zeichnungsvorlage auf Mariannens Bett. Sie rief: »Madame, madame – voilà!« und deutete mit »schauderndem Finger« auf eine Zeile, die, an den Rand des Blattes hingekritzelt, die Worte enthielt: »Haben Sie mich lieb?« Daneben war von anderer, ach, von schwungvoller, kühner, ach, von Theklas Hand ein deutliches: »Ja!« geschrieben.

Marianne starrte die unheilvollen Züge an, und ihr Gesicht wurde weiß wie das Kissen, auf dem sie ruhte.

»Dieses Blatt«, keuchte Zephirine, »dieses Blatt war bestimmt, heute dem Unverschämten übergeben zu werden ...«

Marianne hemmte den Ausbruch von Madame Dumesnils Zorn, dankte ihr bestens für die bewiesene Wachsamkeit und äußerte den Wunsch, allein gelassen zu werden.

Als Krämer, wie gewöhnlich zu spät, zur Unterrichtsstunde kam, wurde er an der Haustür von dem Kammerdiener in Empfang genommen und anstatt nach Theklas Lehrzimmer nach dem Salon geleitet. Schon das machte ihn stutzen, als er aber die Gräfin erblickte, die ihm mit dem Corpus delicti in der Hand entgegentrat, ward ihm recht übel zumute.

»Herr Krämer«, begann Marianne mit gepreßter Stimme – »es ist unwürdig von Ihnen ...« Ihre hohe Erregung hinderte sie fortzufahren, und der burschikose junge Mann und die ruhige, weltgewandte Frau standen einander fassungslos gegenüber.

Er war's, der seine Geistesgegenwart zuerst wiedergewann.

»Frau Gräfin«, sagte er, auf das Blatt deutend, das sie früher vor ihm emporgehalten und das jetzt in ihrer herabgesunkenen Rechten zitterte. – »Nehmen Sie's nicht übel, Frau Gräfin. Das Komtesserl ist immer so schön rot geworden, wenn ich gekommen bin, und so hab ich mir halt einen Spaß gemacht. Einen schlechten Gedanken hab ich dabei nicht gehabt. Nehmen Sie mir's nicht übel«, wiederholte er treuherzig.

Marianne sah ihn an, und zum ersten Male fiel es ihr auf, daß Herr Krämer ein hübscher Mensch war, mit gewinnenden Augen und mit offenem Gesichte. Das ihre verfinsterte sich immer mehr, und nach einer neuen peinlichen Pause sprach sie: »Meine Tochter nimmt von heute an keinen Unterricht im Malen mehr ...«

Er fiel ihr rasch ins Wort. »Das ist gescheit! Denn wissen Sie, Frau Gräfin, Talent hat sie gar keins. Es ist schad um die Zeit. Ich hätt Ihnen das eigentlich schon lang sagen sollen, aber ich hab mir halt gedacht, bei Ihresgleichen kommt es ja nicht darauf an.«

So großer Unbefangenheit gegenüber erlangte Marianne, wenigstens scheinbar, ihren Gleichmut wieder. Mit einigen kalt verabschiedenden Worten reichte sie Herrn Krämer seine Zeichnungsvorlage, von der Theklas Ja natürlich weggetilgt worden war, und ein wohlgefülltes Kuvert.

Dem Maler schoß das Blut ins Gesicht; er senkte einige Sekunden lang den Blick auf das inhaltreiche Päckchen in seinen Händen und sagte dann: »Schauen Sie, Frau Gräfin, das kann ich nicht annehmen ... Das hab ich nicht verdient.« Resolut legte er das Geld auf den Tisch, bat, »dem Komtesserl« einen Gruß von ihm auszurichten, und ging seiner Wege.

Hätte Herr Krämer nicht so große Eile gehabt, den Platz zu räumen, und sich in der Tür umgewandt, ihm würde ein Anblick zuteil geworden sein, dessen sich niemand aus der nächsten Umgebung der Gräfin rühmen konnte. Er hätte die Frau, die man empfindungslos nannte, dastehen gesehen, bebend, gebeugt, das Gesicht von Tränen überströmt. – –

Abends hatte Madame Dumesnil wie gewöhnlich die aus dem Theater kommenden Damen mit dem Tee erwartet. Marianne trat vor den Pfeilerspiegel, um ihre Coiffure abzunehmen. Sie stand abgewandt von ihrer Tochter, die sich in einem Fauteuil niedergelassen hatte und auf deren Gesicht das Licht der von einem Schirme halb bedeckten Lampe fiel. Jeden Zug, jede Bewegung desselben konnte Marianne deutlich im Spiegel sehen.

Nach einigen Bemerkungen über die heutige Vorstellung sprach die Gräfin in gleichgültigem Tone: »Unter anderem: der Zeichenlehrer hat abgedankt. Er gedenkt nicht länger seine Zeit mit unserer Thekla zu verlieren ... Er meint, du hättest kein Talent, armes Kind.«

Theklas Augen sprühten helle Zornesfunken, die Röte des Unwillens flammte auf ihren Wangen; ihre zuckenden Lippen öffneten sich wie zu rascher Antwort, aber – sie schwieg. Sie warf den Kopf mit einer stolzen Bewegung in den Nacken und – schwieg.

Nach einer kleinen Weile war Marianne mit ihrer Coiffure zustande gekommen, setzte sich an den Tisch und ließ sich mit Madame Dumesnil in eine lebhafte Erörterung der neuen Kleidermoden ein, an welcher Thekla nicht teilnahm.

Das junge Mädchen befand sich zwei Tage lang in empörter Stimmung, dann verfiel sie in Melancholie, die nach abermals zwei Tagen einer unbestimmten Empfindung Platz machte, halb Groll, halb Reue, ganz und gar: Unbehagen. Noch waren nicht vier Wochen ins Land gegangen seit Herrn Krämers improvisierter Liebeswerbung, als die kleine Gräfin sich ihres so rasch erteilten Jawortes nur noch mit Entsetzen erinnerte, und ein halbes Jahr hindurch konnte sie von ihrem oder von einem Zeichenlehrer überhaupt nicht sprechen hören, ohne vor Scham an Selbstmord zu denken.

Einen tiefen, ja, wie Madame Dumesnil meinte, unbegreiflich tiefen Eindruck machte diese Episode im Jugendleben Theklas auf ihre Mutter.

Das kleine Ereignis, es ist nicht anders möglich, muß die Gräfin zu einem Rückblick in ihre eigene Vergangenheit veranlaßt, muß schmerzliche Erinnerungen in ihr geweckt haben, dachte die Französin. Sie besann sich jetzt des halb vergessenen Gerüchtes, Marianne habe dereinst einen Menschen geliebt, der ihrer in keiner Weise würdig war; einen Mann von vielem Geiste, scharfem Verstande, aber zweifelhaftem Rufe, der die Phantasie des jungen Mädchens zu fesseln, ihr Herz zu gewinnen wußte und sich plötzlich – sehr zur Beruhigung ihrer Eltern – von ihr abwandte, um ein mit Ostentation zur Schau getragenes Verhältnis mit einer stadtkundigen Schönheit einzugehen. Es gab Leute, die behaupteten – vielleicht ohne es selbst zu glauben –, die Gräfin habe ihre Neigung für Hans von Rothenburg niemals ganz überwunden.