Unzählige Male. Es lag ein so wunderbarer Klang in den Worten, und sie bedeuteten so viel. Sie bedeuteten, daß er kein Gefangener aller jener phantastischen Kindheitseinflüsse mehr sei, daß er nicht länger der Spielball ziellosen Sehnens, nebelhafter Träume, daß er diesem Elfenlande entflohen sei, das mit ihm aufgewachsen war, das ihn mit hundert Armen umschlungen, ihm die Augen mit hundert Händen zugehalten hatte. Er hatte sich losgerissen aus seiner Macht, und streckte es jetzt auch die Hände nach ihm aus, flehte es ihn auch mit stummem Blicke an, winkte es ihm auch mit seinen weißen Gewändern, seine Herrschaft war nun einmal tot, ein vom Tage getöteter Traum, ein von der Sonne zerstreuter Nebel. Denn war seine junge Liebe nicht der Tag, und die Sonne, und die ganze Welt? Und war er nicht bisher einherstolziert in einem purpurnen Feierkleide, das nicht gesponnen war, und mächtig gewesen auf einem Throne, der nicht errichtet war? Jetzt aber, jetzt stand er auf einem hohen Berge und schaute hinaus über die weiten Ebenen der Welt, einer sangesdurstigen Welt, in der er nicht vorhanden war, in der man ihn nicht ahnte, ihn nicht erwartete. Es war ein jubelnder Gedanke, zu denken, daß kein Hauch seines Atems in dieser ganzen weiten, wachenden Unendlichkeit ein Blatt bewegt oder eine Welle gekräuselt hatte. Alles das zu gewinnen, stand ihm noch bevor. Und er wußte, daß er es konnte, er fühlte sich siegesgewiß und stark, wie es nur der kann, dessen Lieder ungesungen und schwellend in seiner Brust ruhen.
Die laue Frühlingsluft war voller Düfte, nicht so gesättigt, wie es eine Sommernacht sein kann, sondern gleichsam gestreift von dem würzigen Balsamhauche junger Pappeln, von dem kühligen Atem später Veilchen und dem süßen Dufte der blühenden Syringen, und das alles kam und vermischte sich, ging und trennte sich und löste sich zuletzt langsam in der Nachtluft auf. Und wie Schatten von dem launenhaften Spiel des Duftes zogen luftige Stimmungen durch sein Inneres.
Er suchte sich ihr Bild zurückzurufen, so wie sie auf dem Sofa geruht und mit ihm gesprochen hatte, aber es kam nicht; er sah sie die Allee entlang gehen, sah sie sitzen und lesen, den Hut auf dem Kopfe, eins der großen, weißen Blätter des Buches zwischen ihren behandschuhten Fingern haltend, gerade im Begriff, es umzuwenden, und dann weiter und weiter blätternd; er sah sie in ihren Wagen steigen am Abend nach dem Theater, sie winkte ihm hinter den Fensterscheiben zu, und dann fuhr der Wagen davon, und er stand da und schaute ihm nach, wie er weiter und weiter fuhr; gleichgültige Gesichter kamen und redeten ihn an; Gestalten, die er seit Jahren nicht gesehen hatte, gingen die Straße hinab, wendeten sich um und schauten ihm nach; und immer weiter fuhr der Wagen, ohne Unterlaß, er konnte sich nicht frei machen von dem Wagen, konnte vor dem Wagen an keine anderen Bilder denken. Da gerade, als er völlig erregt war vor Ungeduld, da kam es: das gelbe Licht, die Augen, der Mund, die Hand unter dem Kinn, so deutlich, als befände es sich gerade vor ihm im Dunkeln.
Wie war sie doch schön, wie mild, wie rein! Er liebte sie in kniender Inbrunst, er warb zu ihren Füßen um all diese bezaubernde Schönheit. Stürze dich herab von deinem Throne und komm zu mir! Mache dich zu meiner Sklavin, lege dir selber die Sklavenketten um den Hals, aber nicht zum Scherz, ich will an der Kette rütteln, es soll Gehorsam sein in deinen Gliedern, Unterwürfigkeit in deinem Blick! O, könnte ich mich mit einem Liebestrank hinabbeugen zu dir; nein, kein Liebestrank, denn der würde dich zwingen, und du würdest dem Zwange willenlos gehorchen, aber ich allein will dein Herr sein, und ich würde deinen Willen hinnehmen, der vernichtet in deinen demütig ausgestreckten Händen liegt. Du solltest meine Königin sein, und ich dein Sklave, aber mein Sklavenfuß würde auf deinem stolzen königlichen Nacken stehen; es ist kein Wahnsinn, was ich begehre, denn darin besteht ja die Frauenliebe: stolz sein und stark und doch sich beugen, ich weiß es, das ist Liebe: schwach sein und herrschen!
Er fühlte es, daß das Teil in ihrer Seele, das Seele für das Glühend-Sinnliche ihrer Schönheit war, sich niemals zu ihm hingezogen fühlen würde, ihn nimmermehr mit diesen blendenden Junoarmen umschlingen, ihm niemals liebesschwach diesen schimmernden Nacken zum Kusse hingeben würde. Er wußte es wohl, das junge Mädchen in ihr konnte er gewinnen, hatte er wohl schon gewonnen, und sie, die Üppige, dessen war er sicher, sie hatte gefühlt, wie die frühe Schönheit, die in ihr erstorben war, sich mystisch in ihrem Grabe gerührt hatte, um ihn mit schlanken Jungfrauenarmen zu umfangen, ihm mit zagen Jungfrauenlippen zu begegnen. Aber seine Liebe war nicht von der Art. Er liebte nur das, was nicht zu gewinnen war, liebte gerade diesen Nacken mit seinem warmen Blütenschnee und dem Schimmer von tauigem Golde unter dem dunklen Haar. Er schluchzte vor Liebesweh und rang seine Hände in sehnender Ohnmacht; er schlang die Arme um einen Baum, lehnte seine Wange gegen seine Rinde und weinte.
Achtes Kapitel.
Es war in Niels Lyhne eine gewisse lahme Besonnenheit, das Kind einer angeborenen Unlust, etwas zu wagen, das Kindeskind eines halbklaren Bewußtseins von dem Mangel an Persönlichkeit, und mit dieser Lahmheit lag er in stetem Kampfe, bald sich selber dagegen aufstachelnd, indem er ihr schimpfliche Namen beilegte, bald bemüht, sie zur Tugend herauszustaffieren, zu einer Tugend, die in der innigsten Verbindung mit dem Naturgrunde in ihm stand, ja noch mehr: die eigentlich bewirkte, was er war und was er vermochte. Aber wozu er sie auch machte, wie er sie auch betrachten mochte, stets haßte er sie doch wie ein heimliches Gebrechen, das er wohl vor der Welt, jedoch niemals vor sich selber verbergen konnte, das immer da war, um ihn jedesmal zu demütigen, wenn er so recht einig mit sich selber war. Und wie beneidete er dann jene selbstbewußte Unbesonnenheit, in deren Feuer Denken und Handeln in eins zusammenschmelzen. Die Menschen, die so waren, erschienen ihm wie Kentauren, Mann und Pferd aus einem Guß, Gedanke und Sprung eins, ein ganzes, während er selber geteilt war in Reiter und Pferd, der Gedanke für sich, und der Sprung für sich.
Wenn er sich vorstellte, er könnte Frau Boye seine Liebe gestehen, und er mußte sich nun einmal alles vorstellen, dann sah er sich so deutlich in dieser Lage, seine ganze Haltung, seine Bewegung, seine ganze Person, von vorn, von der Seite und vom Rücken, sah sich so unsicher gemacht von dieser fieberhaften Angst vor dem Handeln, die ihn stets lähmte und ihm alle Geistesgegenwart raubte, daß er dastand und eine Antwort hinnahm, wie er einen Schlag hingenommen hätte, der ihn in die Knie sinken machte, statt sie hinzunehmen, wie man einen Federball in Empfang nimmt, den man auf wer weiß wie viele Arten zurückwerfen kann, und der auf wer weiß wie viele andere Arten wieder herfliegen kann.
Er wollte sprechen, und er wollte schreiben, aber es gelang ihm niemals, offen mit der Sprache herauszugehen. Es kam nicht weiter als bis zu verblümten Erklärungen, oder dazu, daß er sich scheinbar in halb angenommener lyrischer Leidenschaftlichkeit zu einem liebeswarmen Worte, zu schwärmerischen Wünschen hinreißen ließ. Aber trotzdem kam es doch allmählich zu einem Verhältnis zwischen ihnen, zu einem eigentümlichen Verhältnis, erzeugt aus der demütigen Liebe eines Jünglings, aus dem traumschwülen Verlangen eines Phantasten und dem Wunsche eines Weibes, in romantischer Unnahbarkeit begehrt zu werden. Und das Verhältnis zwischen ihnen ward zu einer Mythe, über deren Entstehung sie sich beide nicht klar waren, zu einer stillen, stubenluftbleichen Mythe von einer schönen Frau, die in ihrer frühesten Jugend einen von den Heroen des Geistes geliebt hatte, welcher von dannen gezogen war, um in einem fernen Lande zu sterben, vergessen und verlassen. Und die schöne Frau hatte trauernd lange Jahre dahin gelebt, aber niemand ahnte ihren Kummer, nur die Einsamkeit war heilig genug, ihr Leid zu schauen. Da kam ein Jüngling, der jenen Geisteshelden seinen Meister nannte, und der durchdrungen war von seinem Geiste, erfüllt von seinem Werke. Und er liebte das trauernde Weib. Ihr aber war es, als stiegen längst entschwundene, glückliche Tage aus ihrem Grabe, so daß sich alles seltsam süß verwirrte und Vergangenheit und Gegenwart zu einem silberverschleierten, dämmerigen Traumtage verschmolzen, und sie liebte den Jüngling halb um seiner selbst willen, halb als Schatten eines anderen, und sie gab ihm ihre halbe Seele völlig hin! Aber leise mußte er auftreten, damit der Traum nicht entfliehe, streng mußte er über seine heißen irdischen Wünsche wachen, damit sie nicht die süße Dämmerung verscheuchten und sie zu neuem Schmerz erwachte.
Allmählich aber gewann ihr Verhältnis unter dem Schutze dieser Mythe doch festere Formen. Sie sagten Du zueinander und nannten sich, wenn sie allein waren, bei ihren Vornamen – Niels und Tema –, und die Gegenwart der bleichen Nichte wurde so viel wie möglich beschränkt. Wohl versuchte Niels hin und wieder einmal die gezogenen Schranken zu durchbrechen, aber Frau Boye war ihm viel zu überlegen, um nicht mit Leichtigkeit diesen Empörungsversuch niederschlagen zu können, und bald ergab sich Niels wieder und fand sich von neuem für eine Weile in diese Liebesphantasie mit lebenden Bildern. Das Verhältnis versumpfte weder zu platonischer Fadheit, noch glitt es in der einförmigen Ruhe der Gewohnheit dahin. Und Ruhe war das, was ihm am wenigsten eigen war.
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