Was einmal da ist, ist da. Die Phantasie! ach, die ist so jämmerlich klein! Ja, wenn man erst älter geworden ist, wie ich, dann läßt man sich zuweilen an der ärmlichen Komödie der Phantasterei genügen. Aber das sollte man niemals tun, niemals!«
Sie setzte sich erschöpft auf dem Sofa zurecht, halb liegend, halb sitzend, die Hände unter dem Kinn, die Ellenbogen auf die Sofakissen gestützt. Ihr Blick schweifte träumerisch durch das Zimmer, und sie schien ganz verloren in ihre trüben Gedanken.
Niels schwieg auch, und es ward ganz still. Man vernahm das rastlose Auf- und Abhüpfen des Kanarienvogels, die Tafeluhr tickte lauter und lauter durch das Schweigen, und eine Saite in dem geöffneten Klavier machte einen plötzlichen kleinen Ruck und klang in langem, schwachem, ersterbendem Tone mit dem weichen Singen des Schweigens zusammen.
Sie sah so jung aus, wie sie so dalag, inmitten des gelben Scheines der Astrallampe, vom Scheitel bis zur Sohle beleuchtet, und es war ein entzückender Widerspruch zwischen dem schönen Halse, der matronenhaften Charlotte Corday-Haube und den kindlich unschuldigen Augen, dem kleinen offenen Munde mit den milchweißen Zähnen.
Niels schaute sie bewundernd an.
»Wie sonderbar es doch ist, dies Sehnen nach dem eigenen Ich!« sagte sie, sich zögernd von ihren Träumen wendend und mit ihrem Blicke wieder zur Wirklichkeit zurückkehrend. »Und ich sehne mich so oft, so unendlich oft nach mir selber, wie ich als junges Mädchen war, und ich liebe das junge Mädchen wie jemand, dem ich unendlich nahe gestanden, mit dem ich Leben und Glück und alles geteilt habe, und den ich dann verlieren mußte, ohne das geringste dazu tun zu können. Welche herrliche Zeit war das! Sie ahnen nicht, wie zart und rein so ein Menschenleben in der Zeit der allerersten Liebe ist. Es kann nur in Tönen ausgesprochen werden; stellen Sie es sich vor wie ein Fest, ein Fest in einem Feenschloß, wo die Luft leuchtet gleich rötlichem Silber. Da ist eine Fülle von Blumen, und sie wechseln ihre Farbe, sie tauschen langsam ihre Farben miteinander aus. Alles klingt da drinnen und jubelt, aber nur gedämpft, und die dämmernden Ahnungen glühen und blitzen wie ein mystischer Wein in feinen, feinen Traumkelchen, und es klingt und duftet: tausend Düfte wogen durch die Säle; o, ich könnte weinen, wenn ich daran denke, und auch wenn ich mir klarmache, daß, wenn das alles wie durch ein Wunder wieder wäre, wie es gewesen ist, mich dies Leben jetzt nicht mehr tragen könnte.«
»Nein, im Gegenteil!« sagte Niels eifrig, und seine Stimme bebte, als er fortfuhr: »Nein, Sie würden gerade weit feiner lieben können und unendlich viel geistvoller als das junge Mädchen.«
»Geistvoll? o, wie ich diese geistvolle Liebe hasse! Was auf dem Boden einer solchen Liebe wächst, sind nichts als Zeugblumen; und die wachsen nicht einmal, die nimmt man aus dem Haar und steckt sie ins Herz, weil das Herz selber keine Blumen hat. Und gerade deswegen beneide ich das junge Mädchen, bei ihr ist nichts Unrechtes, sie mischt nicht das Surrogat der Phantasterei in den Becher ihrer Liebe. Glauben Sie nicht, daß, weil ihre Liebe durchwoben und überschattet ist von Phantasiebildern, von großartig wuchernden, unbestimmten Bildern, dies seinen Grund darin hat, daß sie sich mehr aus diesen Bildern macht als aus der Erde, auf der sie wandelt – nein, das kommt nur daher, weil alle Sinne, Triebe und Fähigkeiten in ihr überall nach der Liebe greifen, allüberall, ohne daß sie das ermüdete. Nicht aber, weil sie ihre Phantasien genösse oder sich auch nur in ihnen wiegte, nein, sie ist unendlich viel wirklicher, so wirklich, daß sie oft auf ihre eigene, unwissende Weise unschuldig zynisch wird. Sie ahnen nicht, welch ein berauschender Genuß zum Beispiel für ein junges Mädchen darin liegen kann, heimlich den Geruch des Zigarrenrauches einzuatmen, der in den Kleidern des Geliebten hängt; das ist für sie tausendmal mehr, als ein ganzer Feuerbrand von Phantasie. Ich verachte die Phantasie! Was nützt es uns, wenn sich unser ganzes Wesen dem Herzen eines Menschen entgegensehnt, um in den kalten Vorraum der Phantasie eingeschlossen zu werden! Und wie häufig ist das doch der Fall! Wie oft müssen wir uns doch darein finden, daß der, den wir lieben, uns mit seiner Phantasie ausschmückt, uns mit einer Glorie umgibt, uns Flügel an die Schultern bindet und uns in ein sternbesätes Gewand hüllt, und uns erst dann seiner Liebe würdig findet, wenn wir in diesem Maskeradenstaat einherstolzieren, in dem keiner von uns sich ganz so geben kann, wie er im Grunde ist, denn wir sind viel zu geputzt, und man macht uns verlegen, indem man sich vor uns in den Staub wirft und uns anbetet, statt uns zu nehmen, wie wir sind, und uns so zu lieben.«
Niels war ganz verwirrt. Er hatte ihr Taschentuch, das sie verloren hatte, aufgehoben und saß nun da, berauschte sich an den Düften des Tuches und war gar nicht darauf vorbereitet, daß sie ihn so ungeduldig fragend ansah, und noch dazu gerade in dem Augenblicke, wo er in die Betrachtung ihrer Hand vertieft war. Endlich bekam er dann die Antwort heraus, daß ja ein Mann damit am besten seine große Liebe beweise, daß er, um es vor sich selber zu verantworten, wie unsagbar er einen Menschen liebe, diesen Menschen mit einer Glorie der Gottheit umgeben müsse.
»Ja, darin liegt ja gerade das Beleidigende«, versetzte Frau Boye, wir sind eben göttlich genug, so wie wir sind!
Niels lächelte verbindlich.
»Nein, Sie müssen nicht lächeln, es soll durchaus kein Scherz sein. Im Gegenteil, die Sache ist sehr ernsthaft, denn diese Anbetung ist von Grund aus tyrannisch, wir sollen gezwungen werden, uns dem Ideale des Mannes anzupassen. Schlag eine Ferse ab, schneide eine Zehe ab! Das in uns, was nicht mit seiner idealen Vorstellung übereinstimmt, soll verschwinden, und gelingt es nicht, es zu unterdrücken, so wird es übersehen, planmäßig vergessen, alle Entfaltung wird ihm genommen, und das, was wir nicht besitzen oder was doch nicht unser Eigentum ist, das soll zur üppigsten Blüte gebracht werden, indem es bis zu den Wolken erhoben wird, indem von vornherein angenommen wird, daß wir es im höchsten Maße besitzen, und indem es zum Eckstein gemacht wird, auf den sich die Liebe des Mannes stützt. Ich nenne das Gewalttätigkeit gegen unsere Natur. Ich nenne das Dressur. Die Liebe des Mannes will dressieren. Und wir fügen uns dem – selbst die, die nicht lieben, fügen sich, – wir sind ja nun einmal verachtungswürdige Schwächlinge.«
Sie erhob sich aus ihrer ruhenden Stellung und blickte Niels drohend an.
»Wenn ich schön wäre, o, bezaubernd schön, herrlicher, als je ein Weib auf Erde gewesen ist, so daß alle, die mich anschauten, von unüberwindlicher, schmerzlicher Liebe ergriffen, davon erfaßt würden wie von einem Zauber, wie wollte ich sie da durch die Macht meiner Schönheit zwingen, nicht ihr hergebrachtes blutloses Ideal, sondern mich selbst anzubeten, so wie ich gehe und stehe, jede Falte meines Wesens, jeden Schimmer meiner Natur!«
Sie hatte sich jetzt ganz erhoben, und Niels dachte auch daran, zu gehen, stand aber da und überlegte eine kühne Äußerung nach der anderen, ohne daß er den Mut finden konnte, seinen Gedanken Worte zu verleihen. Endlich faßte er Mut, ergriff ihre Hand und küßte sie. Da reichte sie ihm auch die andere Hand zum Kusse, und so kam er nicht weiter als zu einem: »Gute Nacht!«
Niels Lyhne war in Frau Boye verliebt. Als er heimging und durch dieselben Straßen kam, durch die er noch vor wenig Stunden so mißmutig geschlendert war, wollte es ihm scheinen, als läge es lange, lange hinter ihm, daß er hier gegangen war. Es war außerdem eine gewisse Sicherheit, ein ruhiger Anstand in seinen Gang und seine Haltung gekommen, und als er seine Handschuhe sorgfältig zuknöpfte, tat er das mit einer Empfindung, als sei eine große Veränderung mit ihm vorgegangen, und mit dem unklaren Bewußtsein, als schulde er es dieser Veränderung, seine Handschuhe zuzuknöpfen, und zwar sorgfältig.
Zu erregt von seinen Gedanken, um schlafen zu können, ging er auf den Wall hinauf. Es schien ihm, als denke er so merkwürdig ruhig, er wunderte sich über die Stille in ihm, aber er glaubte eigentlich nicht so recht daran, es war ihm, als siede es ganz leise aber unaufhörlich in seinem Innern, als sprudle und gäre und walle es, aber weit, weit fort. Ihm war zumute, als warte er auf irgend etwas, das aus der Ferne kommen müsse, eine entfernte Musik, die sich nähern müsse, nach und nach, tönend, sausend, schäumend, brausend, die sich dröhnend über ihn ergießen müsse, ihn ergreifen, ohne daß er wußte, wie, ihn forttragen, ohne daß er wußte, wohin, kommend wie die Flut, kämpfend wie die Brandung, und dann –. Aber noch war er ruhig; nur dies bebende Singen in der Ferne, sonst war alles Friede und Klarheit.
Er liebte, er sagte es sich selber laut, daß er liebte.
1 comment