Sein Gang war langsam, schwer und energisch, seine Armbewegungen waren unbestimmt, ausdruckslos und erforderten viel Platz. Er war rotbärtig wie ein Wilder, und seine Haut war mit Sommersprossen bedeckt. Seine große, hohe Stirn war flach wie eine Wand, zwischen den Augenbrauen hatte er ein paar lotrechte Runzeln, die Nase war kurz und plump, der Mund groß mit dicken, frischen Lippen. Das schönste an ihm waren seine Augen, sie waren hell, sanft und klar. An den Bewegungen der Augäpfel konnte man sehen, daß er ein wenig schwerhörig war. Dies verhinderte ihn aber nicht, die Musik zu lieben und ein leidenschaftlicher Violinspieler zu sein; denn er sagte, man höre die Töne nicht mit den Ohren allein, der ganze Körper höre, die Augen, die Finger, die Füße, und ließe uns auch das Ohr einmal im Stich, würde doch die Hand den rechten Ton zu finden wissen, auch ohne Hilfe des Gehörs. Und schließlich seien doch alle hörbaren Töne falsch, wem aber einmal die Gnadengabe der Töne beschert sei, der besitze in seinem Innern ein unsichtbares Instrument, gegen das die herrlichste Cremoneser Geige nur wie die Ralebaßvioline der Wilden sei, und auf diesem Instrumente spiele die Seele, auf seinen Saiten erklängen die idealen Töne und auf ihm hätten die großen Tondichter ihre unsterblichen Werke komponiert. Die äußerliche Musik, die die Luft der Wirklichkeit durchbebt und die man mit den Ohren vernimmt, sei nur eine armselige Nachahmung, ein stammelnder Versuch, das Unaussprechliche zu sagen, sie sei im Vergleich zu der seelischen Musik dasselbe, was die Statue, die mit den Händen gebildet, mit dem Meißel ausgehauen, mit dem Maße gemessen sei, im Vergleich zu des Bildhauers wunderbarem Marmortraume sei, den zu schauen sterblichen Augen nicht vergönnt wird.
Übrigens war die Musik keineswegs das Hauptinteresse des Herrn Bigum; er war vor allem Philosoph, nicht aber einer jener produktiven Philosophen, welche neue Gesetze erfinden und Systeme bauen; er lachte über ihre Systeme, diese Schneckenhäuser, die man über das unendliche Feld des Gedankens in dem einfältigen Glauben mit sich herumschleppt, daß das, was sich im Innern des Schneckenhauses befindet, das Feld sei. Und diese Gesetze! Gedankengesetze, Naturgesetze! als wäre ein Gesetz entdecken etwas anderes als einen bestimmten Ausdruck für das Bewußtsein finden, wie beschränkt man im Grunde sei; so weit kann ich sehen und nicht weiter, das ist mein Horizont, das und weiter nichts bedeutete die Entdeckung; denn war nicht ein neuer Horizont hinter dem ersten, und ein neuer und abermals ein neuer, Horizont hinter Horizont, Gesetz hinter Gesetz bis in die Unendlichkeit hinaus? Herr Bigum war nicht auf diese Weise Philosoph. Er glaubte nicht, daß er eingebildet sei, daß er sich selber überschätze, aber er konnte seine Augen nicht vor der Tatsache verschließen, daß seine Intelligenz sich über weitere Felder erstreckte als die anderer Sterblichen. Wenn er sich in die Werke der großen Denker vertiefte, so war es ihm, als bewege er sich zwischen einer Schar schlummernder Gedankenriesen, die, vom Lichte seines Geistes überströmt, erwachten und ihrer Stärke inne wurden. Und so war es mit allem: jeder fremde Gedanke, jede Stimmung, jedes Gefühl, dem es vergönnt war, in ihm zu erwachen, das erwachte mit seinem Stempel auf der Stirn, geadelt, geläutert, gestärkt zu neuem Fluge, mit einer Größe in sich, mit einer Macht an sich, von welcher der Schöpfer desselben niemals geträumt hatte!
Wie oft hatte er nicht beinahe demütig gestaunt über diesen wunderbaren Reichtum seiner Seele, über diese selbstbewußte, göttliche Ruhe seines Geistes, denn es konnte Tage geben, an denen er die Welt und die Dinge in der Welt von ganz entgegengesetzten Standpunkten beurteilte, wo er die Welt und die Dinge unter Voraussetzungen betrachtete, die so verschieden voneinander waren wie Tag und Nacht, ohne daß diese Standpunkte und Voraussetzungen, die er zu seinen eigenen gemacht hatte, ihn jemals, auch nur auf eine Sekunde, zu ihrem Eigentum gemacht hätten, ebensowenig wie der Gott, welcher die Gestalt des Stieres oder des Schwanes annahm, dadurch einen Augenblick zum Stier oder Schwan ward und aufhörte Gott zu sein.
Es gab niemand, der von dem, was in Herrn Bigum wohnte, eine Ahnung gehabt hätte. Alle gingen sie blind an ihm vorüber, er aber freute sich über diese Blindheit, in Verachtung der Menschheit. Es werde der Tag kommen, meinte er, da sein Auge erlöschen, da die Pfeiler zu dem herrlichen Gebäude seines Geistes schwanken, zusammenbrechen, da er selber vergehen würde, als sei er niemals gewesen, ohne ein Werk von seiner Hand zu hinterlassen, nicht ein geschriebenes Titelchen, das von dem, was an ihm verloren war, Kunde geben könnte. Er jubelte bei dem Gedanken, daß Geschlecht auf Geschlecht kommen und gehen würde, daß die Größten dieser Geschlechter ihr Leben einsetzen würden, um das zu gewinnen, was er hätte geben können, wenn er nur seine Hand hätte öffnen wollen.
In einer so untergeordneten Stellung zu leben, bereitete ihm einen eigenartigen Genuß, denn welche Verschwendung lag darin, daß sein Geist dazu verwendet werden sollte, Kinder zu unterrichten! War es nicht ein wahnsinniges Mißverhältnis, eine riesige Ungereimtheit, daß man seine (des genialen Bigums) Zeit mit dem armseligen täglichen Brot bezahlte, daß er dies Brot auf Empfehlung gewöhnlicher Menschen verdienen durfte, die sich für seine Fähigkeit verbürgten, den jämmerlichen Platz eines Hauslehrers auszufüllen?
Und man hatte ihn durchfallen lassen, als er sein Staatsexamen machte! Daß der brutale Unverstand der Welt ihn beiseite warf wie elende Spreu, während man das Leere, Inhaltlose für goldenes Korn achtete, welchen Genuß mußte ihm das bereiten, ihm, der sich sagen durfte, seine geringsten Gedanken seien eine ganze Welt wert!
Aber es gab auch Zeiten, in denen die Größe seiner Einsamkeit schwer und erdrückend auf ihm lag. Ach wie oft, wenn er Stunde auf Stunde in heiligem Schweigen auf die Stimme in seinem Innern gelauscht hatte, dann Auge und Ohr wieder dem Leben öffnete, das ihn umgab, und sich nun so fremd fühlte in dem Elend und der Vergänglichkeit des irdischen Daseins – wie oft war ihm da nicht zumute wie jenem Mönch, der im Klosterwalde gelauscht hatte, während der Paradiesvogel einen einzigen Triller sang, und der, als er zurückkehrte, hundert Jahre entschwunden fand! Denn fühlte sich schon der Mönch einsam zwischen dem unbekannten Geschlecht, wie ungleich einsamer mußte nicht er sich fühlen, dessen wahre Zeitgenossen noch nicht einmal geboren waren! In solchen Augenblicken der Verlassenheit konnte sich Bigum über dem feigen Wunsche ertappen, hinabsinken zu können zu dem Schwarm der gewöhnlichen Sterblichen und ihr niederes Glück zu teilen, ein Bürger zu werden auf ihrer großen Erde, ein Bürger in ihrem kleinen Himmel. Aber bald war er wieder er selber.
Der andere Gast des Hauses, Fräulein Edele Lyhne, Lyhnes sechsundzwanzigjährige Schwester, hatte viele Jahre hindurch in Kopenhagen gelebt, zuerst bei der Mutter, die, nachdem sie Witwe geworden, in die Hauptstadt gezogen war, und seit dem Tode der Mutter bei ihrem reichen Onkel, dem Etatsrat Neergaard. Der Etatsrat machte ein großes Haus und nahm regen Anteil am geselligen Leben, so daß Edele in einen wahren Wirbel von Bällen und Festen hineingeriet.
Überall wurde sie bewundert, und die Mißgunst, der getreue Schatten der Bewunderung, verfolgte auch sie. Sie war eine so viel besprochene Persönlichkeit, wie es unbeschadet des guten Rufes irgend möglich ist, und wenn die Herren untereinander über die drei Schönheiten der Stadt sprachen, erhoben sich stets viele Stimmen, die den einen der drei Namen ausstreichen und den von Edele Lyhne an die Stelle setzen wollten; man konnte nur nicht einig werden, welche von den beiden Schönheiten das Feld zu räumen hätte, von der dritten konnte natürlich gar keine Rede sein.
Ganz junge Leute freilich bewunderten sie nicht. Solchen war es ein wenig bange vor ihr; sie fühlten sich in ihrer Nähe doppelt so dumm, als sie waren, denn Edele hörte sie mit einem Ausdruck gelinde vernichtender Geduld an, mit einem Blick boshaft bemerklich gemachter Geduld, der deutlich erzählte, daß sie auswendig wisse, was man ihr zum besten gab. Für alles, was diese Herrchen sagten, für alle ihre Anstrengungen, sich in ihren eigenen wie in Edelens Augen zu heben, indem sie blasiert erscheinen wollten, indem sie wilde Paradoxen aufstellten, oder indem sie, wenn die Verzweiflung den Höhepunkt erreicht hatte, unverschämte Erklärungen machten – für alle diese Versuche, die einander in jugendlich unmotivierten Übergängen drängten und überstürzten, hatte sie nur ein schwaches Lächeln, ein fatales Lächeln des Wiedererkennens, das den Unglücklichen erröten machte und ihn merken ließ, daß er die hundertundelfte Fliege sei, die sich in demselben unbarmherzigen Spinngewebe gefangen hatte.
Auch hatte ihre Schönheit weder das Weiche, noch die Glut, die so betörend auf junge Herzen wirken, wogegen sie auf ältere Herzen, sowie auf kühlere Köpfe einen eigenen Zauber ausübte. Sie war groß. Ihr dichtes, schweres Haar war blond und hatte jenen matten, rötlichen Schimmer, der über reifem Weizen liegt, es wuchs ihr tief in den Nacken hinein in zwei schmaler werdenden Reihen, die etwas heller waren als das übrige Haar und sich stark lockten. Auf der hohen, scharf geformten Stirn zeichneten sich die ziemlich hellen Brauen unbestimmt und ohne Linien ab. Die hellgrauen, großen, klaren Augen wurden durch keine Brauen gehoben, erhielten auch kein wechselndes Spiel von Schatten durch die leichten, dünnen Augenlider. Sie hatten etwas Unbestimmtes, Unschlüssiges in ihrem Ausdruck, sahen die Menschen voll und offen an, hatten nichts von jenem reichen Spiel mit Seitenblicken, jenem flüchtigen Aufblitzen, sie schienen unnatürlich wach, unbezwinglich, unergründlich. Das ganze Mienenspiel lag im Untergesicht, in den Nasenflügeln, in Mund und Kinn. Die Augen schauten nur zu. Vor allem war der Mund ausdrucksvoll mit seinen tiefen Winkeln, seinen scharfgezeichneten Umrissen und den lieblich gebogenen Linien der Lippen. Nur in der Haltung der Unterlippe lag etwas Hartes, das beim Lächeln oft fast verschwand, oft aber auch einem Ausdruck von Brutalität nahe kam.
Die fast gewaltsam geschwungene Linie des Rückens und die im Verhältnis zu den strengen Formen der Schultern und Arme große Fülle des Busens gaben ihr etwas Herausforderndes, etwas berauschend Tropisches, das durch ihren blendend weißen Teint und die krankhafte, stark blutrote Farbe der Lippen noch mehr hervorgehoben wurde, so daß der Gesamteindruck ihrer Erscheinung ein sinnberückender und dabei besorgniserregender war.
Es lag über ihrer ganzen hohen, hüftlosen Gestalt etwas gesteigert Stilvolles, das sie, namentlich in ihren Balltoiletten, mit einer kecken Kunst hervorzuheben wußte, die von ihrem Kunstverstand – der hier Selbstverständnis war – ein beredtes Zeugnis gab.
1 comment