Und konnte man auch nicht leugnen, daß sie damit dicht an den schlechten Geschmack streifte, so fand man doch darin nur einen neuen Reiz.

Nichts konnte tadelloser sein als ihr Auftreten. In dem, was sie sagte, wie in dem, was sie sich sagen ließ, hielt sie sich stets in den Grenzen der strengsten Züchtigkeit. Ihre Gefallsucht bestand darin, daß sie sich nicht im geringsten gefallsüchtig zeigte, daß sie für den Eindruck, den sie unter ihren Anbetern hervorrief, unheilbar blind war, und daß sie durchaus keinen Unterschied machte. Aber gerade deswegen träumten sie alle berauschende Träume von dem Gesicht, das sich hinter der Maske befinden müsse, glaubten sie alle an ein Feuer unter dem Schnee. Keiner von ihnen würde überrascht gewesen sein, wenn er erfahren hätte, daß sie einen heimlichen Liebhaber besitze, aber ebensowenig würde einer von ihnen es gewagt haben, seinen Namen zu erraten.

In diesem Lichte sah man Edele Lyhne.

Sie hatte die Hauptstadt verlassen, weil ihre Gesundheit durch dies unaufhörliche Gesellschaftstreiben, diese Tausendundeine Nacht von Bällen und Maskeraden Schaden genommen hatte. Gegen Ende des Winters hatte es sich herausgestellt, daß ihre Brust stark angegriffen sei, weshalb der Arzt Landluft, Ruhe und Milch verordnet hatte, lauter Dinge, die sich an ihrem jetzigen Aufenthaltsorte köstlich beisammen fanden. Aber auch eine unerträgliche Langeweile fand sich hier, und noch war Edele keine Woche auf dem Lande gewesen, als sie schon von einem verzehrenden Heimweh nach Kopenhagen ergriffen wurde. Einen Brief nach dem anderen füllte sie mit Bitten, daß man ihrer Verbannung doch ein Ende machen möge, und sie sprach es offen aus, daß ihr das Heimweh mehr Schaden zufüge, als die Landluft ihr gut tue. Aber der Arzt hatte den Etatsrat zu ängstlich gemacht, als daß er es nicht für seine Pflicht gehalten hätte, ihren bitterlichen Klagen gegenüber taub zu bleiben.

Es waren nicht eigentlich die Vergnügungen, was sie so schmerzlich entbehrte, sondern daß sie dem Bedürfnisse nicht genügen konnte, ihr Leben hörbar in der geräuschvollen Luft der großen Stadt verklingen zu lassen; herrschte doch auf dem Lande eine Stille in Gedanken, in Worten, in Augen, in allem, so daß man unausgesetzt sich selber hörte, mit derselben unvermeidlichen Bestimmtheit, mit der man in einer schlaflosen Nacht das Ticken der Uhr vernimmt. Und dann zu wissen, daß die da drüben lebten, weiter lebten wie früher, es war ihr, als sei sie bereits gestorben und höre in der stillen Nacht die Töne des Ballsaales über ihrem Grabe.

Hier war niemand, mit dem sie sprechen konnte, denn man erfaßte ihre Worte nicht in der feineren Bedeutung, die gerade das Leben der Worte ausmacht; man verstand sie wohl, es war ja Dänisch, aber mit jenem matten Ungefähr, mit dem man eine fremde Sprache versteht, die man nicht zu hören gewohnt ist. Die Leute ahnten ja nicht, auf wen oder auf was sie durch jene schärfere Betonung eines Satzes anspielte, sie ließen es sich nicht träumen, daß dies kleine Wort ein Zitat war, oder daß jenes andere, gerade in dieser Zusammensetzung, eine neue Einkleidung eines allgemein bekannten Witzes sei. Sie selber sprachen mit einer bitteren Magerkeit, so daß man das Knochengerüste der Grammatik zwischen den einzelnen Sätzen herausfühlen konnte, sprachen mit einer buchstäblichen Anwendung der Wörter, als hätten sie sie eben frisch den Spalten des Wörterbuches entnommen. Schon die Art und Weise, wie sie »Kjöbenhavn« sagten! Bald mit einer gedeckten Betonung, als sei es ein Ort, an dem man kleine Kinder verzehre, bald mit einer Entfernung in der Stimme, als handle es sich um eine Stadt im Innern von Afrika, oder auch mit einem feierlichen Tone, als klinge die Weltgeschichte hindurch, ganz so, wie sie Ninive oder Karthago gesagt haben würden. Keiner von ihnen konnte Kjöbenhavn sagen, so daß es eine Stadt wurde, die sich vom Westtor bis zur Zollbude erstreckte, zu beiden Seiten der Östergade und von Kongens Nytorv. Und so war es mit allem, was sie sagten; und mit allem, was sie taten, war es ebenso.

Es gab nichts auf Lönborggaard, was ihr nicht mißfallen hätte: diese Mahlzeiten, die sich nach der Sonne richteten, dieser Lavendelduft in den Schränken und Schubladen, diese spartanischen Stühle, alle diese Provinzmöbel, die sich so eng an die Wände schmiegten, als sei ihnen bange vor den Leuten. Auch die Luft war ihr widerwärtig: man konnte keinen Spaziergang machen, ohne einen derben Duft von Wiesenheu und Feldblumen in seinem Haar und seinen Kleidern mit heimzubringen, als sei man in ein Wagehaus eingesperrt gewesen.

Und dann – Tante genannt zu werden, Tante Edele! Wie das klang!

Daran gewöhnte sie sich indessen mit der Zeit, aber im Anfang war ihr Verhältnis zu Niels aus diesem Grunde sehr kühl.

Niels war das ganz einerlei.

Da geschah es an einem Sonntag, Anfang August, daß Lyhne und seine Frau in die Nachbarschaft gefahren, und Niels und Fräulein Edele allein zu Hause geblieben waren. Am Vormittag hatte Edele Niels gebeten, ihr einige Kornblumen zu pflücken, er hatte es aber vergessen, und erst am Nachmittag, als er mit Frithjof umherschlenderte, erinnerte er sich daran. Er pflückte die Blumen und lief damit nach Hause.

Die Stille, die im ganzen Hause herrschte, erweckte in ihm die Vorstellung, daß die Tante schlafe, und vorsichtig schlich er durch die Zimmer. Auf der Schwelle zum Saal hielt er inne und bereitete sich darauf vor, ganz leise zu Edelens Tür hinüberzugehen. Das Zimmer war voll Sonnenschein, und ein großer, blühender Oleander machte die Luft beklommen mit seinem süßen Mandelduft. Der einzige Laut, der hörbar war, kam vom Blumentische her, wo die Goldfische in ihrem Glasgefäß plätscherten.

Niels ging leise über den Fußboden. Dabei hielt er die Arme in der Schwebe und die Zunge zwischen den Zähnen.

Behutsam faßte er den Türgriff an, der, von der Sonne durchglüht, ihm in der Hand brannte; langsam und vorsichtig, mit gerunzelter Stirn und zusammengekniffenen Augen, drehte er ihn herum.

Jetzt öffnete er die Tür ein wenig, beugte sich durch die Öffnung vor und legte die Blumen auf einen Stuhl, der neben der Tür stand. Es war dunkel im Zimmer, als wären die Vorhänge geschlossen, und die Luft war gleichsam feucht von Duft, von Rosenölduft.

In seiner gebückten Stellung sah er nichts als den hellen Strohteppich, der auf dem Fußboden lag, die Holzverkleidung unter dem Fenster und den lackierten Fuß eines Pfeilertisches; als er sich aber aufrichtete, um sich zurückzuziehen, erblickte er die Tante.

Sie lag ausgestreckt auf dem seegrünen Atlas des Ruhebetts, in ein phantastisches Zigeunerkostüm gekleidet. Sie lag auf dem Rücken, den Kopf zurückgebeugt, das Kinn in der Luft; ihr langes, aufgelöstes Haar floß über die Lehne des Ruhebettes auf den Teppich herab. Eine künstliche Granatblüte auf dem bronzefarbenen Lederschuh glich einer Insel in mattgoldenem Strom.

Die Farben ihres Anzuges waren mannigfaltig, aber alle gedämpft. Ein Mieder von schwerem, glanzlosem Stoff, buntgemustert mit dunkelblauen, blaßroten, grauen und orangefarbenen Flammen, umschloß ein weißseidenes Hemd mit weiten Ärmeln, die bis an den Ellenbogen reichten. Die Seide hatte einen rötlichen Schimmer und war mit einzelnen Fäden roten Goldes leicht durchwirkt. Ihr Rock von aurikelfarbenem Samt ohne Kante war nicht zusammengerafft, sondern umfloß sie lose, bildete schiefe Falten von unten nach oben und hing von dem Ruhebett auf die Erde herab. Vom Knie abwärts waren ihre Beine entblößt, und die übers Kreuz gelegten Knöchel hatte sie mit einer großen Halskette von blaßroten Korallen zusammengebunden. Auf dem Fußboden lag ein geöffneter Fächer, dessen Zeichnung ein zu einem Rad geordnetes Kartenspiel darstellte, in geringer Entfernung davon lagen ein paar braune, seidene Strümpfe, der eine zusammengezogen, der andere flach ausgebreitet, so daß man die ganze Form derselben und den roten Zwickel deutlich erkennen konnte.

In demselben Augenblick, wo Niels sie erblickte, hatte auch sie ihn schon gesehen.