Er hatte die ganze Unterhaltung von Anfang bis zu Ende mit angehört, und es lag ein entsetzter Ausdruck auf seinem Antlitz, ein nervöses Zucken ging durch seinen Körper. Er hatte zum erstenmal Furcht empfunden vor dem Leben, zum erstenmal wirklich begriffen, daß, wenn das Leben einen Menschen zum Leiden verurteilt hat, dies Urteil weder eine Drohung noch eine Phantasie ist; dann wird man zur Folterbank geschleppt und gemartert, und es kommt keine märchenhafte Befreiung im letzten Augenblick, kein plötzliches Erwachen wie aus einem bösen Traume.
Das war es, was ihm in ahnungsvoller Angst klar geworden war. –
Es wurde kein guter Herbst für Edele, und der Winter vernichtete ihre Kräfte so völlig, daß der Frühling, als er endlich kam, nicht einmal mehr einen armseligen, erfrorenen Lebenskeim vorfand, gegen den er gut sein konnte und liebreich und warm; er fand nur noch ein Hinwelken, dem keine Milde, keine Wärme Einhalt tun konnte, alles, was er vermochte, war Linderung zu bringen. Er konnte seine Lichtfluten über die Erbleichende ausgießen und duftig lind der entweichenden Lebenskraft das Geleite geben, gleichwie die purpurne Abendröte noch zögernd weilt, wenn der Tag bereits erstorben ist.
Es war im Mai, als das Ende kam, ein Tag voller Wonne, einer von jenen Tagen, an denen die Lerche nimmer schweigt, an denen der Roggen so rasch wächst, daß man es mit den Augen sehen kann. Draußen vor ihrem Fenster standen die großen, blütenweißen Kirschbäume. Sträuße aus Schnee, Kränze aus Schnee, Kuppeln, Bogen, Girlanden, eine Feenarchitektur aus weißen Blüten und dazu als Hintergrund der tiefblaue Himmel.
Sie fühlte sich an jenem Tage so matt, und doch so leicht in ihrer Mattigkeit, so wunderbar leicht, und sie wußte, was da kommen würde, denn am Vormittag hatte sie Bigum rufen lassen und hatte Abschied von ihm genommen.
Der Etatsrat war von Kopenhagen herübergekommen, und den ganzen Nachmittag saß der schöne, weißhaarige Mann an ihrem Bett, ihre Hand in der seinen haltend. Er sprach nicht, nur hin und wieder bewegte er die Hand, dann drückte Edele sie leise, und dann blickte sie zu ihm auf, und er lächelte ihr zu. Ihr Bruder blieb auch die ganze Zeit über bei ihr, reichte ihr die Arznei und war auch sonst im Krankenzimmer behilflich.
Sie lag so still mit geschlossenen Augen da, und heimische Bilder aus dem Leben da drüben zogen an ihr vorüber: Sorgenfris hängende Buchen, Lyngbys rote Kirche auf ihrem Sockel aus Gräbern, und das weiße Landhaus an dem kleinen Hohlweg unten am See, wo das Plankenwerk stets grün war, als habe die Feuchtigkeit es angemalt – das alles spiegelte sich vor ihrem geistigen Auge ab, nahm zu an Klarheit, nahm ab an Klarheit und verschwand wieder. Und andere Bilder folgten: da war die Bredgade, wenn die Sonne unterging und das Dunkel langsam an den Häusern heraufzog, und da war das wunderliche Kopenhagen, das man vorfand, wenn man eines Vormittags im Sommer vom Lande hereinkam. Es schien so phantastisch in seinem geschäftigen Treiben und seinem Sonnenschein, mit seinen weißgekalkten Fensterscheiben und seinem Obstduft in den Straßen; die Häuser sahen so unwirklich aus in dem grellen Licht, und es war, als läge ein tiefes Schweigen über ihnen, das selbst der Lärm und das Wagengerassel nicht vertreiben konnten. Und dann war da dieses warme, dunkle Wohnzimmer an den Herbstabenden, wenn man sich zum Theater angekleidet hatte und die anderen noch nicht fertig waren, der Duft der Räucherkerzchen, das Kaminfeuer, das hell über den Teppich hinflackerte, das Klatschen der Regentropfen gegen die Fensterscheiben, die Pferde, die ungeduldig im Torweg scharrten, der melancholische Ruf der Muschelverkäufer da unten auf der Straße, und ahnungsvoll hinter dem Ganzen das Lichtmeer des Theaters, die Musik, die Pracht!
Unter solchen Bildern verstrich der Nachmittag.
Drinnen im Saal waren Niels und seine Mutter. Niels lag vor dem Sofa auf den Knien, er hatte sein Gesicht tief in den braunen Samt vergraben und die Hände über den Scheitel gefaltet; er weinte laut und schmerzlich, ohne den geringsten Versuch zu machen, sich zu beherrschen, so völlig ging er in seinem Kummer auf. Frau Lyhne saß neben ihm. Auf dem Tische vor ihr lag ein Gesangbuch, bei den Sterbeliedern aufgeschlagen. Hin und wieder las sie einige Verse, hin und wieder beugte sie sich über den Sohn und sprach ihm Trostesworte zu oder ermahnte ihn; Niels aber ließ sich nicht trösten, und sie konnte weder seinen Tränen noch dem wilden Flehen seiner Verzweiflung Einhalt tun.
Dann erschien Lyhne in der Tür des Krankenzimmers. Er machte kein Zeichen, er blickte sie nur ernsthaft an, und sie standen beide auf und folgten ihm zu seiner Schwester. Er nahm sie beide an der Hand und trat mit ihnen ans Bett, und Edele blickte auf, schaute sie beide an und bewegte die Lippen wie zu einem Worte; dann führte Lyhne seine Frau ans Fenster und setzte sich zu ihr, während sich Niels am Fußende des Bettes auf die Knie warf.
Er weinte leise und betete mit gefalteten Händen inbrünstig und unaufhörlich in gedämpften, leidenschaftlichem Flüstern; er sagte zu Gott, daß er nicht aufhören wolle zu hoffen: Ich lasse dich nicht, Herr, ich lasse dich nicht, ehe du ja gesagt hast; du darfst sie nicht von uns nehmen, du weißt ja, wie wir sie lieben; du darfst es nicht, du darfst es nicht. Ach, ich kann ja nicht sagen: dein Wille geschehe, denn du willst sie sterben lassen; ach, laß sie doch leben, ich will dir danken und dir gehorchen, ich will alles tun, was du von mir verlangst; ich will so gut sein und niemals widerstreben, wenn du sie nur leben lassen willst. Hörst du mich, mein Gott? O, halt ein, halt ein, mache sie wieder gesund, ehe es zu spät ist! Ich will auch – ja ich will – doch, was kann ich dir nur versprechen? – doch, ich will dir danken, dich nie, nie vergessen; ach, so erhöre mich doch, mein Gott! du siehst ja, daß sie stirbt; hörst du denn nicht? So nimm doch deine Hand fort von ihr, nimm sie fort, ich kann sie nicht verlieren; mein Gott, ich kann es nicht, laß sie doch leben! Willst du nicht, willst du nicht? O, es ist unrecht von dir!
Draußen vor dem Fenster erröteten sie wie Rosen, die weißen Blüten, im Schein der sinkenden Sonne. Blumenleicht fügte der weiße Blütenflor Bogen auf Bogen zu einer Rosenburg, zu einem Chor von Rosen; und durch die luftige Wölbung blaute der Abendhimmel dämmernd herein, während goldige Lichter mit einem Purpurschimmer in Glorienstrahlen auf allen schwebenden Girlanden des Blumentempels blitzten.
Bleich und still lag Edele da drinnen, die Hand des alten Mannes in der ihren haltend. Langsam hauchte sie das Leben aus, Zug für Zug; schwächer und schwächer hob sich die Brust, schwerer und schwerer wurden ihre Augenlider.
»Grüße – Kopenhagen!« war ihr letztes, schwaches Flüstern.
Aber ihren letzten Gruß, den hörte niemand. Nicht einmal als Hauch kam er über ihre Lippen, ihr Gruß, an ihn, den großen Künstler, den sie im geheimen mit allen Fasern ihrer Seele geliebt hatte, dem sie aber nichts gewesen war, nur ein Name, den sein Ohr kannte, nur eine fremde Gestalt mehr in einem großen, bewundernden Publikum.
Und das Licht schwand in blauer Dämmerung, und die Hände sanken matt voneinander. Die Schatten wuchsen – die Schatten des Abends und des Todes.
Der Etatsrat beugte sich herab über ihr Lager und legte seine Hand auf ihren Puls und wartete still, und als das letzte Leben entflohen war, das letzte schwache Wallen des Blutes sich gelegt hatte, da preßte er ihre bleiche Hand an seine Lippen.
»Geliebte Edele!«
Viertes Kapitel.
Es gibt Menschen, die ihren Kummer auf sich nehmen und ihn tragen können, starke Naturen, die sich ihrer Stärke gerade durch die Last der Bürde bewußt werden, während sich die schwächeren Naturen ihrem Kummer hingeben, willenlos, wie man sich einer Krankheit hingeben muß; es durchdringt sie auch der Kummer wie eine Krankheit, saugt sich in ihrem innersten Wesen fest und wird eins mit ihnen, wird in ihnen in einem langsamen Kampfe umgeformt und verliert sich dann in völliger Genesung.
Aber es gibt auch Menschen, für die der Kummer eine gegen sie gerichtete Macht ist, eine Grausamkeit, die sie niemals als Prüfung oder Zuchtrute und ebensowenig als ein einfaches Schicksal ansehen lernen. Er ist für sie eine Ausgeburt der Tyrannei, etwas persönlich Feindliches, und er läßt stets einen Stachel in ihren Herzen zurück.
Es ist nicht häufig, daß Kinder so trauern, aber bei Niels Lyhne war das der Fall. Denn in der Inbrunst seines Gebetes hatte er seinem Gott gleichsam von Angesicht zu Angesicht gegenüber gestanden, er hatte sich auf den Knien vor den Thron seines Schöpfers geschleppt, voller Hoffnung, bebend vor Furcht, aber doch in dem festen Glauben an die Allmacht des Gebetes, mutig in seinem Flehen um Erhörung; und er hatte sich aus dem Staube erheben müssen, und von dannen gehen mit getäuschter Hoffnung. Er hatte mit seinem Glauben das Wunder nicht vom Himmel herunterzuholen vermocht, kein Gott hatte ihm Antwort gegeben auf sein Rufen, der Tod war, ohne einzuhalten, auf seine Beute losgeschritten, als sei kein Wall von inbrünstigen Gebeten schützend zum Himmel aufgetürmt.
Es entstand eine tiefe Stille in ihm.
Sein Glaube war blindlings gegen die Pforten des Himmels angeflogen, und nun lag er mit geknickten Schwingen auf Edelens Grab. Denn er hatte geglaubt, er hatte jenen geraden Märchenglauben besessen, den man so oft bei Kindern findet. Es ist nicht der Gott des Lehrbuches, an den die Kinder glauben, es ist der mächtige, alttestamentliche Gott, der Adam und Eva so herzlich geliebt hat, dem gegenüber das ganze Menschengeschlecht, Könige, Propheten, Pharaonen, nichts sind als artige oder unartige Kinder, dieser gewaltige, väterliche Gott, der mit dem Zorne eines Riesen zürnt, und der gütig ist mit der ganzen Gutmütigkeit eines solchen, der kaum das Leben erschaffen hat und auch schon den Tod darauf entfesselt, der seine Erde mit den Wassern seines Himmels ersäuft, der Gesetze herniederdonnert, die viel zu schwer sind für das Geschlecht, das er erschaffen hat, und der dann zu Kaiser Augustus' Zeit Mitleid mit den Menschen empfindet und seinen Sohn in den Tod gibt, damit das Gesetz gebrochen werden kann, indem es gehalten wird. Dieser Gott, der stets ein Wunder bereit hat, ist der Gott, zu dem die Kinder reden, wenn sie beten. Dann kommt wohl einmal ein Tag, wo sie verstehen, daß sie in dem Erdbeben, das Golgatha erschütterte und die Gräber sprengte, zum letztenmal seine Stimme gehört haben, und daß jetzt, nachdem der Vorhang seines Allerheiligsten zerrissen ist, das Jesuskind regiert, und von dem Tage an beten sie anders.
So weit war Niels noch nicht gekommen.
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