Dann setzte sie sich mit einer Bewegung zurecht, als wollte sie ihre Umgebungen ausschließen und sich in sich selber zurückziehen.

In demselben Augenblick kam Herr Bigum des Weges.

Edele sah ihn mit einem müden Blinzeln an, gerade so wie ein Kind, das zu gut liegt und zu müde ist, um sich zu rühren, das aber doch zu neugierig ist, um seine Augen zu schließen.

Herr Bigum hatte einen neuen Filzhut auf, er war ganz in sich selbst vertieft und gestikulierte so lebhaft mit seiner Tombakuhr, die er in der Hand hielt, daß die dünne, silberne Halskette, an der die Uhr befestigt war, jeden Augenblick zu zerreißen drohte. Mit einer plötzlichen Bewegung steckte er die Uhr unsanft in seine Tasche, schüttelte ungeduldig den Kopf, faßte mit ärgerlichem Griff in den Kragenaufschlag seines Rockes und schritt dann weiter mit einem zornigen Schlenkern der Glieder und einem Gesicht, das der ganze hoffnungslose Kummer verfinsterte, der in einem Manne kocht, der vor seinen eigenen peinigenden Gedanken flüchtet und dabei doch weiß, daß er vergebens flieht.

Edelens Hut, wie er da am Fuße der Treppe lag, weiß schimmernd gegen die schwarze Erde des Weges, hemmte ihn in seiner Flucht. Er nahm ihn vorsichtig mit beiden Händen auf, in demselben Augenblick sah er Edele und blieb, unschlüssig, was er sagen sollte, stehen, ohne ihr den Hut zu reichen. Nicht einen Gedanken konnte er in seinem Gehirn entdecken, nicht ein einziges Wort wollte ihm über die Lippen, und mit einem dumpfen Ausdruck gelähmten Tiefsinnes starrte er vor sich hin.

»Das ist ein Hut, Herr Bigum«, warf Edele hin, um nicht bei diesem verlegenen Schweigen selbst verlegen zu werden.

»Ja«, erwiderte der Hauslehrer eifrig, als wäre er entzückt darüber, von ihr eine Ansicht bestätigen zu hören, die er sich auch gerade gebildet hatte; aber in demselben Augenblick errötete er über die Unbeholfenheit dieser Antwort.

»Er lag hier«, fügte er schnell hinzu, »hier auf der Erde, so – so lag er«, und er beugte sich herab und zeigte, wie der Hut gelegen hatte, mit der ganzen gedankenlosen Umständlichkeit des Verlegenseins, und beinahe glücklich über die Erleichterung, die es ihm gewährte, ein Lebenszeichen von sich geben zu können, wie armselig es auch sein mochte. Und noch immer stand er da mit dem Hut in der Hand.

»Wollen Sie den Hut behalten?« fragte Edele. Bigum wußte nicht, was er antworten sollte.

»Ich meine, ob Sie ihn mir nicht geben wollen?« erklärte sie.

Bigum ging ein paar Stufen hinauf und reichte ihr den Hut. »Fräulein Lyhne,« sagte er, »Sie glauben – Sie dürfen nicht glauben, Fräulein Lyhne – bitte, lassen Sie mich reden; das heißt – ich will ja auch nichts sagen, haben Sie nur Geduld mit mir! Ich liebe Sie, Fräulein Lyhne, unsagbar, unsagbar, es ist mir nicht möglich, zu sagen, wie ich Sie liebe! O, wenn es ein Wort gäbe, das die bewundernde Furcht eines Sklaven, das ekstatische Lächeln eines Märtyrers, das namenlose Heimweh eines Verwiesenen, eines Landesverwiesenen in sich trüge, so würde ich das Wort wählen, um damit auszudrücken, wie sehr ich Sie liebe. O, lassen Sie mich reden, hören Sie mich an, hören Sie mich an, stoßen Sie mich nicht von sich. Denken Sie nicht, daß ich Sie durch wahnsinnige Hoffnungen beleidige, ich weiß, wie gering ich in Ihren Augen bin, wie plump, wie abstoßend! Ich vergesse keinen Augenblick, daß ich arm bin, ja, Sie sollen es hören, so arm, daß ich meine Mutter in einem Armenhause wohnen lassen muß, ich muß es, muß es, so bitter arm bin ich. Ja, Fräulein Lyhne, ich bin nur ein niedrig dienender Mann, der das Brot Ihres Bruders ißt, und doch gibt es eine Welt, in der ich herrsche, und zwar mächtig, stolz, reich, umgeben von Siegesglanz, edel, geadelt durch denselben Trieb, der Prometheus veranlaßte, das Feuer aus dem Himmel der Götter zu holen, und dort bin ich Ihr Bruder, der Bruder aller Geistesheroen, die die Welt getragen hat, die die Welt noch trägt; o, ich verstehe sie, wie nur Ebenbürtige einander verstehen; kein Flug, den sie geflogen, war zu hoch für die Kraft meiner Schwingen. Verstehen Sie mich, glauben Sie mir? Ach, glauben Sie mir nicht, es ist ja alles nicht wahr, ich bin nichts als die niedrig geborene Koboldsgestalt, die Sie hier sehen. Es ist alles vorbei; denn die furchtbare Verirrung dieser Liebe hat meine Schwingen gelähmt, meine geistigen Augen verlieren ihre Sehkraft, mein Herz verdorrt, meine Seele verblutet zu der Blutlosigkeit der Feigheit – o, erlösen Sie mich von mir selber, Fräulein Lyhne, wenden Sie sich nicht höhnend ab, weinen Sie, weinen Sie über mich!«

Er war mitten auf der Treppe auf beide Knie gesunken und rang die Hände. Sein Gesicht war bleich und verzerrt, er biß die Zähne in wildem Schmerz zusammen, die Augen schwammen in Tränen, seine ganze Gestalt erbebte vor unterdrücktem Schluchzen, daß man nur ein pfeifendes Atmen vernahm.

Edele hatte sich nicht von der Plattform erhoben. »Fassen Sie sich doch, Mensch!« sagte sie in mitleidigem Tone, »fassen Sie sich, lassen Sie sich doch nicht so hinreißen, seien Sie ein Mann! Hören Sie, Herr Bigum, stehen Sie auf, gehen Sie ein wenig im Garten auf und ab und versuchen Sie, sich wieder zu beruhigen!«

»Und können Sie mich denn wirklich nicht lieben?« stöhnte Bigum fast unhörbar; »o, es ist furchtbar! es gibt nichts in meiner Seele, was ich nicht ausrotten, nicht vertilgen würde, wenn ich Sie dadurch gewinnen könnte. Nein, nein, wenn man mir die Wahl stellte, wahnsinnig zu werden, und ich in den Visionen dieses Wahnsinnes Sie besitzen könnte, Sie besitzen, dann würde ich sagen: Hier habt ihr mein Gehirn, greift mit schonungsloser Hand hinein in sein wundervolles Gebäude und zerreißt alle die feinen Fasern, mit denen mein Selbst an den strahlenden Triumphwagen des Menschengeistes geknüpft ist, laßt mich zurücksinken in den Kot der Materie, unter die Räder des Wagens, laßt die andern die Pfade ihrer Herrlichkeit ziehen, entgegen dem Lichte! Verstehen Sie mich? Begreifen Sie, daß ich Ihre Liebe, selbst wenn sie, ihres Glanzes, der Majestät ihrer Reinheit beraubt, zu mir käme, besudelt, ein Zerrbild wahrer Liebe, ein krankes Phantom, daß ich sie selbst dann annehmen würde, demütig kniend, als wäre sie die heilige Hostie. Aber das Beste in mir ist umsonst, auch das Schlechte in mir ist vergebens. Ich rufe die Sonne an, aber sie scheint nicht, ich rufe den Himmel an, aber er antwortet nicht. Antworten! Welche Antwort gäbe es wohl auf meine Leiden? Nein, diese unsäglichen Qualen, die mein innerstes Wesen bis in seine geheimsten Wurzeln zersplittern, diese peinigenden Schmerzen, sie berühren Sie nur unangenehm, sind für Sie nur eine kleine, unbedeutende Beleidigung, und in Ihrem Herzen lächeln Sie höhnisch über die unmögliche Leidenschaft des armen Hauslehrers.«

»Sie tun mir unrecht, Herr Bigum,« versetzte Edele und erhob sich – Bigum erhob sich gleichfalls –, »ich lache nicht; Sie fragen mich, ob Sie die geringste Hoffnung haben, und ich antworte Ihnen: Nein, Sie haben nicht die geringste Hoffnung; zum Lachen ist das aber ganz und gar nicht. Doch will ich Ihnen noch etwas sagen: von dem ersten Augenblicke an, als Sie anfingen, an mich zu denken, hätten Sie wissen können, wie meine Antwort ausfallen würde, und Sie haben es auch gewußt, nicht wahr, Sie haben es die ganze Zeit hindurch gewußt, und doch haben Sie alle Ihre Gedanken und Wünsche dem Ziele entgegengetrieben, von dem Sie wußten, daß Sie es nicht erreichen konnten. Ihre Liebe beleidigt mich keineswegs, Herr Bigum, aber ich verurteile sie. Sie haben getan, was so viele andere tun! Wir schließen unsere Augen vor dem wirklichen Leben, wir wollen das Nein, welches das Leben unseren Wünschen entgegenruft, nicht hören, wir wollen den tiefen Abgrund, den es uns zeigt, vergessen, den Abgrund, der sich zwischen unserer Sehnsucht und ihrem Gegenstande befindet. Wir wollen unseren Traum verwirklichen. Das Leben aber rechnet nicht mit Träumen, auch nicht das geringste Hindernis läßt sich aus dem Leben hinwegträumen, und so liegen wir denn schließlich jammernd am Abgrunde, der sich nicht verändert hat, der noch immer so ist, wie er von Anfang an gewesen war, nur wir selbst sind verändert, wir haben alle unsere Gedanken durch die Träume erregt, wir haben unsere Sehnsucht zu übermenschlicher Spannung hinaufgeschraubt. Der Abgrund aber ist nicht schmaler geworden, und alles in uns sehnt sich schmerzlich danach, hinüberzugelangen. Aber nein, nein, immer nein, nichts als nein! Hätten wir nur auf uns geachtet, solange es noch Zeit war – jetzt aber ist es zu spät, wir sind unglücklich!«

Sie schwieg, gleichsam erwachend. Ihre Stimme war ruhig gewesen, suchend, als spräche sie mit sich selber; jetzt aber wurde sie abweisend, kalt und hart.

»Ich kann Ihnen nicht helfen, Herr Bigum, Sie sind mir nichts von alledem, was Sie mir zu sein wünschen; wenn Sie das unglücklich macht, so müssen Sie unglücklich sein, wenn Sie leiden, so leiden Sie nur, es muß auch Wesen geben, die leiden! Hat man einen Menschen zu seinem Gott gemacht, zum Herrn seines Schicksals, so muß man sich auch dem Willen seiner Gottheit beugen; klug ist es aber niemals, sich Götter zu machen und seine Seele in die Gewalt eines anderen zu geben, denn es gibt Götter, die nicht von ihrem Piedestal herabsteigen wollen. Seien Sie vernünftig, Herr Bigum! Ihre Gottheit ist so gering, ist der Anbetung nicht wert, wenden Sie sich ab von ihr, und werden Sie glücklich mit einer von den Töchtern der Erde!«

Mit einem matten Lächeln ging sie durch das Gartenzimmer ins Haus. Bigum sah ihr vernichtet nach. Eine Viertelstunde lang ging er noch vor der Treppe auf und nieder, alle die Worte, die sie gesprochen hatte, klangen noch in der Luft; sie war eben erst gegangen, es war ihm, als zögere da noch ein Schatten von ihr, als könne sein Flehen sie noch erreichen, als sei noch nicht alles hoffnungslos vorbei. Aber dann kam das Hausmädchen, sammelte die Kupferstiche und trug den Stuhl ins Haus, und die Mappen, die Binsendecke – alles.

Und dann konnte auch er gehen.

Oben in dem geöffneten Fenster der Bodenkammer saß Niels und starrte ihm nach.