Ein Erdkundebuch für Schulkinder. Die Geburtsstunde von »Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen«. Der kleine Nils, faul und böse, wird zur Strafe in ein kleinen Kobold verwandelt. Er zieht mit den Wildgänsen durch Schweden und wird über das, was er erlebt, ein anderer, ein besserer Mensch.

 

Das Buch – mit einer sehr persönlichen Handschrift – ist ein zentrales Werk von Selma Lagerlöf. Ihre Heimatverbundenheit vermittelt sie mit den Augen des kleinen Nils. Viele Landschaften stellt sie über Sagen und Märchen vor. Eine wichtige Fantasiewelt ihrer Kindheit, erzählt von Großmutter, Haushälterin und Kindermädchen. Nils steht auch für ihre Haltung, Außenseitern eine Chance zu geben, verbunden mit der Überzeugung, dass die Dinge sich stets zum guten Wenden.

 

Ein ganz persönlicher Aspekt ist der eingearbeitete Tod ihrer Schwester, die an Tuberkulose starb, gleiches lässt sie der Mutter und den Geschwistern von Aase und Mads widerfahren, den Freunden von Nils. So gilt das Werk zugleich als Erziehungs- und Entwicklungsroman und ist eines der berühmtesten Bücher Schwedens.

 

Selma Lagerlöf erhielt viele Ehrungen, ein Höhepunkt der Literaturnobelpreis, den sie als erste Frau verliehen bekam.

 

Sie starb am 16. März 1940 in ihrem Haus, als ein Schlaganfall sie mitten aus ihrem immer noch aktiven Leben riss.

 

Teil 1

 

I. Der Junge

 

Der Kobold

 

Sonntag, den 20. März

 

Es war einmal ein Junge. Er mochte wohl vierzehn Jahre alt sein, war lang aufgeschossen und hatte flachsgelbes Haar. Er war zu nichts recht zu gebrauchen. Am liebsten mochte er schlafen und essen, sein größtes Vergnügen aber war, dumme Streiche zu machen.

 

Es war an einem Sonntagmorgen. Die Eltern des Jungen waren im Begriff, sich zum Kirchgang anzukleiden. Der Junge selbst saß in Hemdärmeln auf dem Tisch und dachte, wie schön es sei, dass Vater und Mutter beide fortgingen, sodass er ein paar Stunden lang sein eigener Herr sein konnte. »Jetzt kann ich doch Vaters Flinte herunternehmen und ein wenig damit schießen, ohne dass sich gleich jemand dahineinmischt,« sagte er zu sich selbst.

 

Aber es war fast, als habe der Vater die Gedanken des Knaben erraten, denn gerade als er in der Tür stand und gehen wollte, blieb er stehen und wandte sich nach ihm um.

 

»Wenn du nicht mit Mutter und mir in die Kirche willst,« sagte er, »so finde ich, du solltest auf alle Fälle eine Predigt hier zu Hause lesen. Willst du mir das versprechen?«

 

»Ja,« sagte der Junge, »das kann ich gerne tun.« Und er dachte natürlich, dass er nicht mehr lesen würde, als er Lust hatte.

 

Der Junge meinte, er habe seine Mutter sich noch nie so schnell bewegen sehen. In einem Nu war sie bei dem Wandgesims, nahm Luthers Postille herunter und legte sie auf den Tisch am Fenster, die Predigt des Tages aufgeschlagen. Sie schlug auch im Evangelienbuch auf und legte es neben die Postille. Schließlich zog sie den großen Lehnstuhl an den Tisch heran, der im vorigen Jahr auf der Auktion im Vemmenhöger Pfarrhaus gekauft war, und in dem sonst niemand als der Vater sitzen durfte.

 

Der Junge saß da und dachte bei sich, die Mutter mache sich doch gar zu viele Mühe mit den Vorbereitungen, denn er hatte gar nicht die Absicht, mehr als eine Seite hier und da zu lesen. Aber nun war es zum zweiten Mal gerade so, als wenn der Vater ganz durch ihn hindurchsehen könne, denn er sagte strenge: »Sieh nur zu, dass du ordentlich liest! Denn wenn wir nach Hause kommen, überhöre ich dir jede Seite, und hast du eine Seite übersprungen, so kannst du mir glauben, ich werde dich lehren!«

 

»Die Predigt ist vierzehn und eine halbe Seite lang,« sagte die Mutter, wie um das Maß voll zu machen. »Du musst dich wohl gleich hinsetzen und lesen, wenn du hindurchkommen willst.«

 

Und dann gingen sie endlich, und als der Junge in der Tür stand und ihnen nachsah, fand er, dass sie ihn in einer Falle gefangen hatten. »Die gehen nun dahin und sind stolz darauf, dass sie es so gut gemacht haben und ich hier nun, während der ganzen Zeit, dass sie fort sind, über der Predigt brüten muss,« dachte er bei sich.

 

Aber sein Vater und seine Mutter waren weit davon entfernt, stolz über irgendetwas zu sein; sie waren im Gegenteil ziemlich betrübt. Sie waren arme Häuslerleute und hatten nicht viel mehr Boden als einen Gartenfleck. In der ersten Zeit, als sie das Haus hatten, konnten sie nur ein Schwein und ein paar Hühner halten, aber sie waren selten strebsame und tüchtige Leute, und jetzt hatten sie sowohl Kühe als auch Gänse. Es war vorzüglich vorwärts gegangen mit ihnen, und hätten sie nicht an den Sohn denken müssen, so wären sie an diesem schönen Sonntagmorgen froh und vergnügt zur Kirche gegangen. Der Vater klagte darüber, dass er faul und nachlässig sei, in der Schule hatte er nichts getan, und er war so untüchtig, dass er ihn nur mit Not und Mühe die Gänse hüten lassen konnte. Und die Mutter bestritt keineswegs, dass das wahr sei, aber sie war am meisten betrübt darüber, dass er ein so wilder und arger Bube war, hart gegen Tiere und boshaft gegen Menschen, »Wenn doch Gott ihn beugen und ihm einen anderen Sinn geben wollte,« sagte die Mutter.