Aber plötzlich, aus irgendeinem Grunde, wahrscheinlich, weil draußen auf dem Flur eben jemand die Treppe heraufzukommen schien, hielt sie es jetzt doch für besser, sich schnell noch mal nach ihrer Küche umzusehn ...
Der große Thienwiebel, der etwas ungeduldig gewartet hatte, bis ihr runder, trivialer Rücken endlich hinter der Tür verschwunden war, weil er wieder etwas wie einen Monolog in sich verspürte, war jetzt tragisch auf das kleine, runde Spiegelchen über der Kommode zugetreten, aus dem ihm nun sein schöner, edelgeformter Apollokopf melancholisch zunickte.
»Armer Freund! Wie ist dein Gesicht betroddelt, seit ich dich zuletzt sah!«
Amalie bekümmerte sich nicht mehr um ihn. Sie kannte ihren großen Gatten.
»Armer Freund!«
War das sein Haar? Sein schönes, berühmtes, blauschwarzes Haar? Eine grausame Natur der Dinge hatte ihm nun schon seit Wochen verwehrt, es sich brennen zu lassen. In die Stirn, in diese erhabene Wölbung majestätischer Gedanken, fiel es ihm nun in Strähnen, dick und feist, wie sie selber, diese schale, engbrüstige Zeit.
»Armer Freund!«
Nachdem er sich so zu der erhabenen Mission, die ihm vorschwebte, genügend präpariert zu haben glaubte, drehte er sich jetzt gemessen nach dem kleinen, gelben Korb um, der dicht neben dem Bett quer über zwei Stühle gestellt war.
»Armes kleines Menschenkind! Welch böser Stern verdammte dich in dieses Elend!«
Das arme kleine Menschenkind zappelte ihn an und lachte.
»Aber still! Still! Ich will alles einsetzen! Ich will meine ganze Kraft einsetzen! Ich werde arbeiten, Freund! Ich werde arbeiten! Ich werde dem Schicksal die Stirn bieten; ich werde ihm abtrotzen, daß du in dieser herben Welt dereinst jene Stellung einnimmst, die deinen Talenten gebührt ... Ja! So macht Gewissen Feige aus uns allen. Der angebornen Farbe der Entschließung wird des Gedankens Blässe angekränkelt; und Unternehmungen voll Mark und Nachdruck, durch diese Rücksicht aus der Bahn gelenkt, verlieren so der Handlung Namen!«
Seine Stimme bebte, seine Schlafrocktroddeln hinter ihm, die er sich zuzubinden vergessen hatte, zitterten.
Amalie hatte jetzt ihr Schmalzbrot wieder beiseite gelegt.
»Niels, ich will doch lieber nähen gehn!«
»Nie! Nie! Sprich nicht davon, Amalia! Bei meinem Zorn! Sprich nicht davon!«
Amalie war wieder beruhigter denn je.
Ihr schönes Schmalzbrot war, Gottseidank, noch nicht ganz alle. Der große Thienwiebel, der einigermaßen aus seinem Konzept gekommen war, hatte jetzt einige Mühe, wieder hineinzukommen. Den Shakespeare, den er wieder von der Erde aufgelesen hatte, hinten in seinen Wattenklunkern, die Finger krampfhaft um seinen roten Saffianrücken, nickte er jetzt wieder schmerzlich auf das kleine, verwunderte Bündelchen hinab. Es hatte die ganze Zeit über kaum zu mucksen gewagt.
»Ich weiß ... ich werde sterben, Freund! Ich werde sterben! – Das starke Gift bewältigt meinen Geist. Ich kann von England nicht die Zeitung hören; doch prophezei' ich, die Erwählung fällt auf Fortinbras ... Du lebst; erkläre mich und meine Sache den Unbefriedigten!«
Der kleine Fortinbras war jetzt ganz ernsthaft geworden. Er hatte seinen großen Papa noch nie so menschlich mit ihm reden hören.
»Den Unbefriedigten ...«
Der Regen draußen, der die braunen Dächer drüben schon seit frühmorgens wie mit Glanzlack überzogen hatte, plätscherte, aus dem Fensterblech, unter das die reizende Ophelia natürlich wieder den Wasserkasten zu hängen vergessen hatte, war er jetzt allmählich sogar die graue Tapete hinab bis mitten unter das kleine Blaukattunene gekrochen. Auf seinem kleinen Teich drunter konnten die beiden angebrannten Schwefelhölzchen bereits in aller Gemächlichkeit rundherum Gondel fahren. Plötzlich schien den großen Thienwiebel wieder mal irgend etwas unversehens gestochen zu haben.
»Amalie! Amalie!!«
»Was denn schon wieder, Thienwiebel!«
Sie hatte sich nicht einmal umgesehn.
»Amalie! Es ist nicht zu leugnen: Das Kind hat ganz außergewöhnliche Fähigkeiten! Es hat mich soeben angelacht. Es unterhält sich ordentlich mit mir!«
Amalie grunzte nur verdrießlich.
»Ich wette, man kann ihm schon die Anfangsgründe des Sprechens beibringen, Amalie!«
»Hm? du! Sag mal: a! Na?! a-a-a ...«
Der kleine gute Fortinbras wußte sich jetzt vor lauter Verdutztheit gar nicht mehr zu lassen. Er hatte seine beiden dicken Händchen rechts und links in den Korbrand gekrallt und ähte nun, seinen Kopf nach hinten zurückgelegt, seinen großen Papa ganz vergnügt an.
»Nicht ä, mein Junge! Sag a! A sollst du sagen! Also? Na? Aaaa! ...«
»Ach, laß doch! Das kann er ja noch nich!«
Amalie hatte es endlich doch für angezeigt gehalten, sich ins Mittel zu legen.
»Was?! Das kann er nicht?! Sage das nicht, Amalie! Sage das nicht! Dafür ist er mein Junge! Hä? Bist du mein Junge? Hä?«
»Aber er ist ja erst kaum ein Vierteljahr alt!«
»So? So? Nun, hm ... Ich will nicht mit dir rechten, Amalie! Allein du wirst doch vorhin bemerkt haben, daß er durchaus verstand, was ich meinte!«
Amalie gähnte. Sie gab es auf. Es hatte ja keinen Zweck! Es war ja alles egal! So oder so!
Der große Thienwiebel aber war damit noch nicht zufrieden. Er konnte seine Idee noch nicht so leicht wieder fallenlassen.
»Nein, gewiß, Amalie! Der Junge berechtigt zu den besten Hoffnungen!«
»Ach ...«
»Nun! Was ist denn da so Ungewöhnliches dabei, Amalie? Du weißt: es gibt mehr Ding' im Himmel und auf Erden, als unsere Schulweisheit sich träumt, Amalie«!
Amalie gähnte nur wieder.
» ... und nun, ihr Lieben,
Wofern ihr Freunde seid, Mitschüler, Krieger,
Gewährt ein Kleines mir!«
Sie gewährten es ihm.
Es war wirklich zu schön von dem großen Thienwiebel!
Aber er hatte sich jetzt tief über seinen kleinen, süßen Fortinbras, der zu so großen Hoffnungen berechtigte, gebeugt und wollte ihn nun – oh, zum ersten Mal, zum ersten Mal, seit langer, langer Zeit, Horatio! – wieder auf die kleine bleiche Stirn küssen.
Aber es sollte nicht dazu kommen. Er war bereits wieder
zurückgetaumelt, noch ehe er seine schöne Tat zum Austrag gebracht hatte.
»Ha!«
Seine Augen rollten, seine Fäuste hatten sich geballt, die beiden roten Troddeln hinten an seinem Schlafrock schlotterten vor Entrüstung.
»Ha!«
Das Rätsel von der alten, lieben, guten, geschäftigen Frau Wachtel von vorhin hatte sich glänzend gelöst.
Sei's Farbe der Natur, sei's Fleck des Zufalls, kurz und gut, aber der kleine Prinz von Norwegen lag wieder seelenvergnügt mitten in seinen weitläufigen Besitzungen da.
IV
Seit die schöne Frau Kanalinspektor, sorgsam in Sackleinwand genäht, endlich abgegangen war und weitere Promenaden am Hafendamm sich nicht wieder ergiebig erwiesen hatten, war jetzt auch nebenan bei dem kleinen Ole Nissen nichts mehr zu holen. Erneute Bohrversuche bei dem famosen, noblen Putthuhn hatten auch nichts gefruchtet. Seine »Alte« schien ihm nicht sonderlich imponiert zu haben. Wenigstens hatte ihr kleiner »Tintoretto« sie bei seiner letzten offiziellen Visite draußen vergeblich an den neuen, schöntapezierten Wänden gesucht. Übrigens waren die Herrschaften leider gerade ausgegangen. Man schien eben nicht bloß in Christiania allein undankbar zu sein.
Keine Hummern bei Hiddersen mehr, keine Ägypter mehr, keine »Mieze« mehr! Das letzte schmerzte den armen kleinen Ole natürlich am meisten. Aber man konnte es der Kleinen wirklich unmöglich verdenken. Von aufgeweichten Brotkrusten ließ sich nicht satt werden.
Der alten, lieben, guten Frau Wachtel aber war damit ein sehr großer Stein vom Herzen gefallen. Sie hatte nämlich die niedliche kleine Mieze einmal dabei ertappt, als sie dem abscheulichen Ole grade Modell stand, und da sie hierfür wirklich auch nicht das mindeste Verständnis besaß, ein gewisses, kleines Vorurteil gegen sie gefaßt.
Ihr gutes Herz zu betätigen hatte sie in letzter Zeit leider nur wenig Gelegenheit gehabt.
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