Jetzt hatte er endlich auch ihre Hände zu fassen bekommen und bedeckte sie nun mit seinen Küssen.
Der große Thienwiebel erhob keine Einsprache. Er hatte segnend seine Hände über sie gebreitet und konnte sein Herz nur noch stammelnd ausschütten.
»Der Kreis hier weiß, ihr hörtet's auch gewiß, wie ich mit schwerem Trübsinn bin geplagt!«
Der kleine Krebsrote hinten in seiner Ecke hatte unterdessen seine Not mit sich gehabt. Schon verschiedene liebe Male hatte er sich in den Schlaf geweint. Jetzt aber war er wieder aufgewacht und konnte absolut nicht mehr seinen Gummipfropfen finden. Die reizende Ophelia hörte ihn nicht. Sie war längst in ihrer Sofaecke eingeschlafen. Er schrie jetzt, als ob er am Spieße stak.
Der große Thienwiebel hatte natürlich erst recht keine Zeit für den Schurken. Er hatte den kleinen Ole Nissen, der jetzt kaum noch seine kleinen, wasserblauen Augen aufhalten konnte, vorn an seinem Rockkragen zu packen bekommen und deklamierte nur wieder:
»Er ist eine Elster, Horatio! Eine Elster! Aber, wie ich dir sagte, mit weitläufigen Besitzungen von – Kot gesegnet!«
III
Es war nicht anders! Aber er hegte Taubenmut, der große Thienwiebel, ihm fehlte es an Galle ...
Er hatte seit kurzem – er wußte nicht wodurch? – all seine Munterkeit eingebüßt, seine gewohnten Übungen aufgegeben, und es stand in der Tat so übel um seine Gemütslage, daß die Erde, dieser treffliche Bau, ihm nur ein kahles Vorgebirge schien. Dieser herrliche Baldachin, die Luft, dieses majestätische Dach mit goldnem Feuer ausgelegt: kam es ihm doch nicht anders vor als ein fauler, verpesteter Haufe von Dünsten. Welch ein Meisterwerk war der Mensch! Wie edel durch Vernunft! Wie unbegrenzt an Fähigkeiten! In Gestalt und Bewegung wie bedeutend und wunderwürdig im Handeln, wie ähnlich einem Engel; im Begreifen, wie ähnlich einem Gotte; die Zierde der Welt! Das Vorbild der Lebendigen! Und doch: was war ihm diese Quintessenz vom Staube? Er hatte keine Lust am Manne – und am Weibe auch nicht. Die Zeit war aus den Fugen! War es zu glauben? Aber – e – man hatte ihm noch immer nicht geschrieben. Man war undankbar in Christiania. Armer Yorick!
Sterben, schlafen ... vielleicht auch träumen? ...
Einstweilen jedoch hatte es allen Anschein, als ob gewisse Rücksichten das Elend des armen Yorick noch zu hohen Jahren kommen lassen wollten. Jedenfalls wenigstens durften jetzt die naseweisen Aktschüler unten in der Akademie den großen, unübertrefflichen Hamlet aus Trondhjem schon seit vollen vierzehn Tagen in den schönen, langen Vormittagstunden als sterbenden Krieger kopieren. Das war freilich eine Entwürdigung, aber sie brachte Geld ein. Nur genügte es leider noch nicht.
Wenn der »arme Yorick« jetzt mittags nach Hause kam und sich mit einem Appetit, als hätte er eben vierundzwanzig Stunden lang ohne aufzusehn Eichenkloben zerkleinert, über die große Schüssel herstürzte, die ihm die reizende Ophelia schon vorsorglich verdeckt, der Photographie des großen Thienwiebel grade gegenüber, auf den Tisch gestellt hatte, fand sich meist nur eine etwas grün angelaufene, dünne Kartoffelsuppe drin vor, in der höchstens hie und da noch ein paar kleine, kohlschwarze Speckstückchen schwammen. Armer Yorick! ...
Amalie schien schon seit undenklichen Zeiten ihre Nachtjacke nicht mehr in die Waschwanne gesteckt zu haben. Wozu auch große Toilette machen? Man war ja zu Hause.
»Nicht wahr, Thienwiebel?«
Der große Thienwiebel hielt es für unter seiner Würde zu antworten. Er hatte sich eben wieder in seinen alten, bequemen Schlafrock geworfen, aus dem die Watte freilich, ihrer nur noch geringen Quantität halber, nicht mehr recht klunkern konnte.
Seinen William aufgeklappt, hatte er sich jetzt wieder tiefsinnig rücklings über das kleine Blaukattunene geworfen.
»Oh, schmölze doch dies allzu feste Fleisch,
Zerging' und löst' in einen Tau sich auf!
Oder hätte nicht der Ew'ge sein Gebot
Gerichtet gegen Selbstmord! O Gott! o Gott!
Wie ekel, schal und flach und unersprießlich
Scheint mir das ganze Treiben dieser Welt!
Pfui! Pfui darüber!«
Amalie, die sich wieder auf ihre kleine, mollige Fußbank neben den Ofen gesetzt und eben ihre Schmalzstulle in den Kaffee gestippt hatte, sah jetzt etwas verwundert in die Höhe. Als aber der »arme Yorick« dann nicht mehr weiterlas und, seinen William zugeklappt, sich jetzt sogar, ganz wider seine sonstige Gewohnheit, mit dem Kopfe gegen die Wand gedreht hatte, wurde ihr denn doch ein wenig unbehaglich zumut.
Eine Weile noch überlegte sie; dann aber, endlich, hatte sie sich entschieden. Ihre Stimme klang noch kläglicher als sonst.
»Ich will nähen gehn, Niels.«
»Nein, Amalie! Niemals! Niemals! Das werde ich nie dulden! Das wäre eine unverzeihliche Vernachlässigung deiner heiligsten Mutterpflichten!«
Er war wieder empört aufgesprungen.
»Nein, Amalie! Nie! Niemals! ... So lang Gedächtnis haust in dem ... zerstörten Ball hier!«
Er hatte sich melodramatisch vor die Stirn gestoßen.
Amalie fühlte sich wieder beruhigt und biß jetzt herzhaft in ihre Schmalzstulle ...
»Herein?«
Es war Frau Wachtel. Sie brachte wieder die Milch für den Kleinen.
Der große Thienwiebel hatte es sich nicht versagen können, ihn auf den Namen Fortinbras taufen zu lassen.
»Na, Dickerchen? Langweilste dich? Oh, mein Mäuseken! Oh!«
Sie fand nämlich, daß Amalie ihren heiligsten Mutterpflichten etwas nachlässig oblag, und gestattete sich öfters eine kleine Kontrolle.
Frau Rosine Wachtel war nämlich im Besitze eines guten Herzens. Und das mußte wahr sein, denn sie sagte es selbst und vergoß jedesmal Tränen dabei. Indessen war ihr dieser Besitz noch nicht allzu gefährlich geworden. Denn es war ihr noch niemand durchgebrannt, und sie war noch immer zu ihrem Geld gekommen; und das war oft ein Stück Arbeit gewesen. Frau Rosine Wachtel konnte das jeden versichern ... »Ach, du Würmeken! Ach, mein Putteken! Hab'n se dir so in'n Korb jestochen!«
Die gute Frau Wachtel war ganz gerührt.
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